Familie Familie: Schlafwandeln hat viele Ursachen
Marburg/Hamburg/dpa. - Die Nacht ist nicht nur zum Schlafen da - jedenfalls nicht für alle: 88 verschiedene Schlaf-Wach-Störungen unterscheiden Mediziner heute nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) in Marburg. Während die meisten Betroffenen sich in den Stunden vor Sonnenaufgang im Bett hin und her wälzen, stehen andere auf und klettern dem Mond entgegen - ohne sich später erinnern zu können.
«Schlafwandeln ist gar nicht so selten», sagt Andreas Karmeier, Leiter des Schlaflabors am Krankenhaus Jerusalem in Hamburg. Häufig seien Kinder betroffen. Studien zufolge liege der Anteil der Schlafwandler bei den Vier- bis Achtjährigen bei rund einem Zehntel, so der Schlafmediziner. Mit dem Beginn der Pubertät lege sich das Problem meist. Untersuchungen, die auch bei Erwachsenen von bis zu zehn Prozent Schlafwandlern ausgehen, bezweifelt Karmeier zwar. Fest stehe aber: «Fast alle erwachsenen Schlafwandler waren es auch als Kinder schon.»
Medizinisch betrachtet handelt es sich beim Schlafwandeln um eine Form der Aufwachstörung, die Somnambulismus oder auch Nachtwandeln genannt wird. «Es gibt zwei Sorten des Schlafwandelns», erklärt Professor Thomas Penzel, Schlafmediziner am Klinikum der Universität Marburg. Beginnt es während des Tiefschlafs, sei eher stereotypes Verhalten die Folge: Die Betroffenen setzen sich beispielsweise für ein paar Minuten auf die Bettkante und legen sich anschließend wieder ins Bett.
Nimmt der nächtliche Ausflug dagegen während der leichteren Traumschlafphase seinen Anfang, sind Penzel zufolge durchaus komplexe Handlungen möglich. «Das kann dann als ein Ausleben der Träume gedeutet werden», so der Mediziner. Betroffene geistern dann mit offenen Augen und starrem Blick durch die Wohnung, versuchen aus dem Fenster zu klettern oder plündern den Kühlschrank. Später schlafen sie ein, irgendwo in der Wohnung. Am Morgen wachen sie dann verwundert abseits ihres Bettes auf. Wie sie dahingekommen sind, wissen sie nicht. Diese ausgeprägte Form des Schlafwandelns ist nach Penzels Einschätzung allerdings sehr selten.
Schlafwandeln sei in den meisten Fällen eine harmlose Störung, so Schlafmediziner Karmeier. Auch mit Blick auf schwere Fälle beruhigt er: «Es ist keine psycho-pathologische Auffälligkeit.» Die Betroffenen sind also weder psychisch krank noch drohen ihnen langfristige gesundheitliche Schäden - es sei denn, sie stürzen die Treppe herunter oder fallen bei nächtlichen Kletterpartien aus dem Fenster. Denn mit der sprichwörtlichen traumwandlerischen Sicherheit ist es dem Experten zufolge bei Schlafwandlern nicht weit her. Verletzungen durch Stolpern oder Anstoßen sind daher nicht selten. Meist laufen die Betroffenen einfach geradeaus - auch wenn eine Wand folgt oder ein Geländer.
Auf Grund der erhöhten Unfallgefahr rät die DGSM, bei Aufwachstörungen zur Vorbeugung von Verletzungen Hindernisse im Kinder- oder Schlafzimmer zu beseitigen. Auch das Austauschen des Bettes gegen eine auf dem Boden liegende Matratze sollte der Organisation zufolge in Erwägung gezogen werden, ebenso wie das Einbauen von Alarmglocken an Fenstern und Türen. Angehörigen rät Karmeier, einen Schlafwandler möglichst nicht aufzuwecken, denn während des Aufwachsens sind die Betroffenen besonders gefährdet. «Am besten ist es, ihn zurück ins Bett zu führen.»
Machen die Familienangehörigen aber regelmäßig kein Auge zu oder klagt ein Schlafwandler über Tagesmüdigkeit und Leistungsabfall, rät Karmeier zu einer Therapie. Der DGSM zufolge müssen Schlafstörungen behandelt werden, wenn sie zu Verletzungen, aggressivem Verhalten oder übermäßigem Essbedürfnis führen. Als Medikamente kommen dem Arzt zufolge beruhigende Psychopharmaka wie Benzodiazepine oder auch Antidepressiva in Frage. Mögliche weitere Therapieformen sind laut DGSM aber auch Hypnose und Entspannungsübungen.
Das Spektrum der Behandlungsformen ist so breit, weil als mögliche Ursache für das spektakuläre Schlafphänomen auch verschiedene Faktoren diskutiert werden: Alkohol, Medikamente oder Stress könnten Schlafwandeln fördern, so Karmeier - ebenso wie hohes Fieber bei Infekten und Schlafmangel. Die Tatsache, dass besonders häufig Kinder betroffen sind, erklären viele Fachleute allerdings mit biologischen Ursachen: Das Zentrale Nervensystem sei bei ihnen noch nicht ausgereift und bestimmte Gehirnstrukturen unreif, so eine gängige Theorie. Mit der Pubertät wachse sich das Problem meist aus.
Und auch der Mond - der dem Phänomen den Namen Mondsüchtigkeit eintrug - wurde verdächtigt, weil Schlafwandler sich oft an Lichtern orientieren und ihnen zustreben: «Klare Beweise, dass er Schlafwandeln tatsächlich begünstigt, gibt es aber nicht», sagt Karmeier.