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Experteninterview Falsches Ernährungsverhalten: Interview mit Frau Dr. Susann Weihrauch-Blüher

13.05.2016, 14:33
Frau Dr. Susann Weihrauch-Blüher, Oberärztin für pädiatrische Endokrinologie.
Frau Dr. Susann Weihrauch-Blüher, Oberärztin für pädiatrische Endokrinologie. Uniklinik Halle/Wittenberg

Halle (Saale) - Interview mit Frau  Dr.  Susann Weihrauch-Blüher, Oberärztin für pädiatrische Endokrinologie an der Universitätskinderklinik der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg. Das Interview führte Bärbel Böttcher.

Frau Dr. Weihrauch-Blüher, wann sollten Eltern, die das Gefühl haben, ihr Kind sei zu dick, einen Arzt aufsuchen?
Dr. Susann Weihrauch-Blüher: So schnell wie möglich. Schon um abzuklären, ob nicht eine andere Erkrankung wie zum Beispiel eine Unterfunktion der Schilddrüse oder eine vermehrte Cortisolproduktion an der verstärkten Gewichtszunahme schuld  ist.

Wie oft kommt Letzteres vor?
Weihrauch-Blüher: Relativ selten. In den meisten Fällen ist es der Lebensstil, der zu Übergewicht oder extremen Übergewicht, also zu Adipositas, geführt hat. Kalorienaufnahme und Kalorienverbrauch sind dann aus der Balance geraten. Das Ernährungsverhalten hat sich in den letzten Jahren drastisch geändert, da immer größere Portionen und süßere, kaloriendichte Lebensmittel angeboten werden.
Vieles geht auf Kosten einer aggressiven Werbung beispielsweise  für  spezielle  Kinderprodukte, die stark gesüßt sind.  Ein großes Problem stellen  auch gesüßte Getränke dar, die oft schon bis zur Hälfte des täglichen Kalorienbedarfs eines Kindes abdecken.   Zugleich   bewegen sich Kinder heute viel weniger als früher, da sich die Freizeitbeschäftigungen durch die elektronischen Medien wie Gameboy, Computer, Videospiele usw. immer mehr hin zu sitzenden Beschäftigungen verändern.
In Deutschland gelten aktuell gelten 15 Prozent der Kinder als übergewichtig, sechs bis sieben Prozent  sogar als extrem übergewichtig, also adipös.  

Wirkt sich dies schon auf die Gesundheit der Kinder aus?
Weihrauch-Blüher:  Bis zum Grundschulalter geht es meist darum, eine Grunderkrankung auszuschließen und eine Gewichtsstabilisierung zu erreichen. Ab dem 12./13. Lebensjahr, also ab dem Pubertätseintritt,  treten häufig schon Begleiterkrankungen auf, die den Familien gar nicht bewusst sind, weil sie keinen Leidensdruck verursachen. Viele adipöse  Jugendliche  haben bereits  einen erhöhten Blutdruck.
Zudem ist bei vielen der Glucosehaushalt gestört, was sich zunächst als Erhöhung der Insulinspiegel im Blut zeigt.  Dies kann im weiteren Verlauf zum Typ 2-Diabetes führen.   Bei bis zu 40 Prozent  der stark Übergewichtigen sind bereits   erhöhte Insulinwerte messbar,   was wiederum zu Heißhungerattacken führt, die das Gewicht dann weiter steigen lassen.
Ein richtiger Teufelskreis also. Bis zu  50 Prozent der adipösen Jugendlichen haben bereits erhöhte Leberwerte oder eine Fettstoffwechselstörung, also zum Beispiel erhöhte Cholesterin- oder Triglyzeridwerte.

Sicher hat das Übergewicht  auch Auswirkungen auf die Gelenke.
Weihrauch-Blüher: Bei vielen Betroffenen ist eine Fehlstellung der Beinachse zu beobachten. Das geht unter anderem mit Kniegelenksproblemen einher. Die wiederum führen dazu, dass die Kinder und Jugendlichen den Sport meiden.

Welche Folgen hat das für das Erwachsenenalter der heutigen Kinder und Jugendlichen?
Weihrauch-Blüher: Massive. Wenn der Fettstoffwechsel schon in der Kindheit aus dem Gleichgewicht geraten ist, dann erhöht sich das Risiko, als Erwachsener an Arteriosklerose - im Volksmund Arterienverkalkung genannt - zu erkranken. Das kann zu Herzinfarkt oder Schlaganfall führen.
Auch wird aus dem Vor-Diabetes häufig ein echter Diabetes Typ 2. Darunter  leiden übrigens schon  viele junge Leute. Ich habe noch gelernt, dass dieser Diabetes-Typ 2 – im Volksmund als „Altersdiabetes“ bezeichnet - erst mit 40 oder 45 Jahren auftritt. Mein jüngster Patient ist 13 Jahre alt.

Müsste auf diese Situation nicht die Politik reagieren?
Weihrauch-Blüher: Die Politik hat bereits erkannt, dass da ein riesiges  Problem auf uns zukommt und dass sie handeln muss. So wird darüber diskutiert, ob nach skandinavischem Vorbild eine Fett- und Zuckersteuer eingeführt werden sollte. Es wird über ein Werbeverbot für Kinderlebensmittel  und die Erhöhung der Zahl der Sportstunden nachgedacht.

Würden Sie  auch  ein Schulfach „Gesunde Ernährung“ begrüßen?
Weihrauch-Blüher: Sicher. Aber ein solches Schulfach würde nur Sinn machen, wenn es flächendeckend und regelmäßig angeboten würde. Und das müsste mit anderen Maßnahmen kombiniert werden, eben beispielsweise mit einer Ausdehnung des Sportunterrichts.  (mz)