Autismus Autismus: Auf Warnsignale bei Kindern achten
Göttingen/dpa. - Nicht wenige verdrängen Warnsignale. Doch nicht jede Verzögerung der Entwicklung muss gleich die Diagnose Autismus bedeuten. Um das klarzustellen, sind verschiedenen Untersuchungen notwendig. Darüber hinaus sind autistische Störungen bei jedem Kind unterschiedlich stark ausgeprägt.
«Wir haben gemerkt, dass etwas nicht stimmt, als einer unserer Söhne mit einem Nachbarjungen zusammen im Sandkasten saß», erzählt Renate Zeuner, Vorsitzende des Regionalverbands Autismus Göttingen. Er habe mit dem anderen Kind einfach nicht spielen können. «Ob da noch jemand saß oder nicht, war unserem Sohn vollkommen egal.» Einmal habe die Kindergärtnerin den Jungen damit bestrafen wollte, ihn nicht mit anderen Kindern spielen zu lassen - er habe sich darüber gefreut. Das Desinteresse an anderen Kindern sei am Anfang besonders auffällig gewesen, habe sich aber mit der Zeit gebessert.
Die Kernsymptome einer autistischen Erkrankung sind Störungen der verbalen und nonverbalen Kommunikation sowie eine Störung der sozialen Interaktion, erklärt Martin Sobanski, Leiter der Abteilung für Entwicklungsstörungen am Heckscher-Klinikum München. «Gesunde Säuglinge brabbeln beispielsweise vor sich hin, autistische Säuglinge zeigen oft keine Ansätze von sprachlicher Äußerung.» Außerdem zeigen sie nur selten mit dem Finger irgendwohin oder strecken die Arme nach den Eltern aus. Sie scheinen kein Bedürfnis zu haben, sich durch Gesten mitzuteilen und auszutauschen.
Ein Anzeichen für Autismus kann auch eine konkrete Sprachentwicklungsstörung sein - das sei aber insbesondere bei leichter betroffenen Kindern nicht zwangsläufig so, erklärt Prof. Christine Freitag, Leiterin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Frankfurt/Main. «Auffälliger ist, wenn das Kind kein Interesse daran hat, mit anderen Kindern zu spielen.» Grundsätzlich hätten autistische Kinder weniger Interesse an Spielkameraden als an einzelnen Spielsachen selbst. «Damit können sie sich ausgiebig beschäftigen.» Sie lebten oft ganz in ihrer eigenen Welt.
Auffällig sei auch, wenn die Kinder nicht auf Anlächeln reagieren, sagt Freitag. Das liege daran, dass es autistischen Kindern oft nicht gelingt, Gefühle ihrer Mitmenschen zu erkennen. «Deshalb ist es beispielsweise auch typisch, wenn ein Kind mit einer autistischen Störung ein anderes Kind nicht tröstet, wenn es sich beim Spielen wehtut.» Oft sähen die Kinder dann einfach woanders hin und nehmen keinen Anteil an der Situation. Um eine mögliche autistische Störung festzustellen, sollten Eltern ihr Kind aufmerksam beobachten, aber auch mit dem Kindergarten oder der Schule sprechen.
Eine verlässliche Diagnose kann etwa ab dem dritten Geburtstag des Kindes gestellt werden, erklärt Sobanski. Die Diagnose basiert im Wesentlichen auf einem Interview mit den Eltern und einer direkten Beobachtung des Kindes. Das Interview soll einen ausführlichen Einblick in die bisherige Entwicklung des Kindes geben. Beobachtet wird es nach einem festlegten Schema bei einer bis zu einstündigen Spiel- und Handlungssequenz. Zusätzlich werden körperliche, neurologische und psychische Untersuchungen einbezogen. «Denn eine reine Autismus-Diagnose bringt dem Kind nichts, wichtig ist auch eine Überprüfung der Intelligenz, der Sprachentwicklung und Motorik.»
Beobachtungen und Befragungen seien nicht so sicher wie eine Diagnose über Laborwerte. Heute würden immerhin schon früher Fälle diagnostiziert, bei denen sich das Kind in einem Graubereich am Rande des autistischen Spektrums befindet. «In unserer Klinik müssen wir aber häufig sagen: Heute können wir noch keine hundertprozentige Diagnose stellen, wir müssen das Kind noch länger beobachten», sagt Sobanski. Denn in fremden Beobachtungssituationen seien autistische Kinder oft irritiert, weil sie sehr sensibel auf Veränderungen ihrer Umwelt reagieren. Eine verfrühte Diagnose vor dem zweiten Lebensjahr kann sich ebenso als falsch herausstellen, ergänzt Freitag.
Viele Eltern sind am Anfang voller Abwehr. «Das ist auch ganz verständlich, schließlich handelt es sich um eine lebenslange Diagnose», sagt Sobanski. Stellt sie sich allerdings als relativ sicher heraus, sei es empfehlenswert, sich früh mit anderen betroffenen Eltern in Verbindung zu setzen. «Der Austausch hilft bei der Trauerarbeit und liefert oft auch ganz praktische Ratschläge im Umgang mit der Entwicklungsstörung.» Es sei wichtig zu erfahren, wie die Familie nach der Diagnose weitermachen kann.