Ärzte warnen Ärzte warnen: Wenn Sport zur Sucht wird

Wie der Mann überhaupt noch laufen konnte, ist dem Sportpsychologen Heiko Ziemainz bis heute unbegreiflich. Als der etwa 40-Jährige zu ihm in die Sprechstunde an der Universität Erlangen-Nürnberg kam, war der hintere Teil seiner Füße bereits komplett offen und blutig. Ziemainz erkannte, dass der Läufer und Triathlet nicht nur ein körperliches Problem hatte – sondern auch ein seelisches. Der Mann litt unter Sportsucht.
„Sportsüchtige sind bereit, massive gesundheitliche Schädigungen in Kauf zu nehmen, weil sie ja ihre Dosis, sprich ihren Sport haben wollen“, erklärt der Akademische Direktor vom Institut für Sportwissenschaft und Sport.
Im Unterschied zu gesunden Menschen, die mit Freude laufen, schwimmen oder Rad fahren, trainieren sie weit über ein vertretbares Maß hinaus und ignorieren sogar Verletzungen.
Meist trifft es Läufer oder Triathleten
„Es ist eine schlimme Erkrankung, auch wenn sie sehr selten ist“, weiß Prof. Jens Kleinert vom Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln. Sie tritt besonders bei Laufsportlern und im Triathlon auf, aber auch in Fitnessstudios.
„Sie machen Sport nicht aus Leidenschaft, sie genießen es nicht, sondern kommen einem Zwang nach. Sie denken: Wenn ich es nicht mache, geht es mir schlecht“, sagt Kleinert. Eben dieser Kontrollverlust ist das Hauptmerkmal der Sucht. Die Gedanken der Süchtigen „drehen sich den ganzen Tag nur darum, wie sie sozusagen an ihren „Stoff“ kommen“, betont Ziemainz.
Folgen ähnlich wie bei Alkohol und Drogen
Exzessives Sporttreiben gehört im Unterschied zu stoffgebundenen Süchten wie Alkoholismus zu den Verhaltenssüchten, unter denen auch Einkaufs- oder Internetsucht geführt werden. Die seelischen Folgen sind ähnlich wie bei Alkohol oder Drogen: Betroffene verlieren häufig ihr soziales Umfeld oder den Beruf – es gibt nur noch den Sport Fällt er plötzlich weg, kommt es zum Entzug, der sich in Reizbarkeit, Schlafstörungen oder depressiven Verstimmungen äußern kann.
Auch bei Ziemainz' Klienten waren irgendwann die Freunde weg und die Ehe kaputt. Zwar hatte er früher eine gute Bindung an den Sport, wie der Wissenschaftler sagt. Doch nach dem Tod eines Onkels, der ihn mit erzogen hatte und für ihn wie ein Vater gewesen war, geriet er in eine tiefe Krise.
Um seine Gefühle in den Griff zu bekommen, trieb er immer mehr Sport – sogar nachts. „Es ist häufig so, dass die Leute durch sehr kritische Lebensereignisse von einer positiven Bindung an Sport abgleiten in die Sucht“, sagt Ziemainz. Besonders trifft es Menschen, die wenig Selbstwert haben und dazu noch perfektionistisch veranlagt sind.
Diese Alltagsflucht gilt als häufige Ursache der Erkrankung. Eine andere Erklärung ist in der Wissenschaft umstritten: Die Ausschüttung von Endorphinen, den „Glückshormonen“, bei starker sportlicher Aktivität, die den Körper in eine Art Rauschzustand versetzen.
Zwei Formen des Krankheitsbildes
Sportabhängigkeit ist in den gängigen Klassifikationen für psychische Störungen nicht als eigenständiges Krankheitsbild geführt. Mediziner unterscheiden trotzdem zwischen der primären und der sekundären Form. Fälle wie der von Ziemainz beschriebene gelten als primäre Sportsucht. Der Anteil der Betroffenen an allen Sporttreibenden wird auf weniger als ein Prozent geschätzt.
Bei der sekundären Form, die laut Kleinert häufiger vorkommt, ist die Abhängigkeit Folge einer anderen Grunderkrankung. Dazu zählen Zwangsstörungen, eine krankhafte Körperbildwahrnehmung und besonders die Essstörungen Magersucht und Bulimie, unter denen besonders Frauen und Mädchen leiden. Sport und Bewegung haben hier hauptsächlich die Funktion, zwanghaft Kalorien zu verbrennen und abzunehmen.
Um solchen Patienten aus extremem Untergewicht herauszuhelfen und sie zu stabilisieren, hat man ihnen früher - ähnlich wie beim Alkohol - die völlige Abstinenz empfohlen, also: keinen Sport mehr.
Mittlerweile denkt man um: So startete die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg Anfang des Jahres eine Studie zur ambulanten Sporttherapie mit Essgestörten, die ihnen die Rückkehr zum gesunden Umgang mit Bewegung ermöglichen soll.
„Es geht darum, dass die Patienten ihren Körper und ihre Grenzen besser wahrnehmen und Sport zunehmend mit Spaß und Wohlfühlen verbinden“, erklärt Prof. Almut Zeeck. „Sie sollen lernen, dass es bei Sport nicht nur um Leistung oder das Verbrennen von Kalorien geht, sondern um andere Dinge.“
Denn Sport sei ja eigentlich etwas Gesundes, sagt die Oberärztin. „Er hat auch auf viele Aspekte, die bei Essstörungen beeinträchtigt sind, einen positiven Einfluss.“ Er könne etwa das Erleben des Körpers oder den Selbstwert verbessern.
In jedem Fall sollten Menschen, die sportsüchtig sind, eine Psychotherapie machen, wie alle Fachleute raten. Häufig seien das Mischformen aus Verhaltenstherapie und psychodynamischen Ansätzen bis hin zur Psychoanalyse, erläutert Kleinert. Auch Ziemainz empfahl seinem Klienten eine therapeutische Einrichtung - mit Erfolg: „Der Sport ist nicht mehr der zentrale Inhalt in seinem Leben.“
(dpa)
