Schuldneratlas 2022 Creditreform: Überschuldungszahlen könnten sehr bald steigen
Noch liegt die Zahl der überschuldeten Haushalte in Deutschland auf einem Rekordtief. Doch ist dies wohl nur die Ruhe vor dem Sturm. Die steigenden Energiepreise dürften schon bald immer mehr Menschen in die Überschuldung drängen.
Neuss - Es wirkt auf den ersten Blick paradox: Seit Monaten schießen die Kosten für Energie und Lebensmittel in die Höhe. Immer mehr Menschen kämpfen damit, mit ihrem Geld überhaupt noch über die Runden zu kommen. Und doch ist die Zahl der überschuldeten Haushalte in Deutschland in diesem Jahr auf ein Rekordtief gesunken.
Insgesamt zählte die Wirtschaftsauskunftei Creditreform in ihrem in Neuss veröffentlichten „Schuldneratlas Deutschland 2022“ knapp 5,9 Millionen überschuldete Personen, rund 274.000 oder 4,4 Prozent weniger als im Vorjahr. Dies sei der niedrigste Wert seit Beginn der Auswertungen im Jahr 2004, berichteten die Experten. Überschuldung liegt den Experten zufolge vor, wenn der Schuldner die Summe seiner fälligen Zahlungsverpflichtungen mit hoher Wahrscheinlichkeit über einen längeren Zeitraum nicht begleichen kann - oder kurz: die Gesamtausgaben die Einnahmen übertreffen.
Anstieg der Überschuldungszahlen erwartet
Doch ist das aktuelle Tief in den Augen der Experten nur die Ruhe vor dem Sturm. „Die guten Zahlen sind leider trügerisch“, sagte der Leiter der Creditreform Wirtschaftsforschung Patrik-Ludwig Hantzsch. „Wir fürchten in den kommenden Monaten eine Trendwende.“ Nach Einschätzung von Creditreform werden die Überschuldungszahlen sehr bald wieder „deutlich steigen“.
Dass die Überschuldungsquote zurzeit so niedrig ist, ist nach Einschätzung der Experten auch eine Folge der Corona-Pandemie. Staatliche Hilfsprogramme, pandemiebedingte Einschränkungen der Konsummöglichkeiten, aber auch Vorsicht der Verbraucher angesichts der neuartigen Krise hätten zu einem sprunghaften Anstieg der Sparquote und aber auch zu ungewöhnlich starker Schuldentilgung geführt.
Der Haken bei der Sache: Nach einer Studie des Ifo-Instituts unter dem Titel „Inflation frisst Überschussersparnis“ waren die Corona-Ersparnisse bereits Mitte 2022 wieder ausgegeben. Dank der Sparpolster hätten die Verbraucher in der ersten Jahreshälfte trotz Rekordinflation ihren Konsum ausweiten können, berichtete das Institut. Doch diese Phase sei nun vorbei.
Viele Verbraucher greifen auf Ersparnisse zurück
Bei einer in dieser Woche veröffentlichten Umfrage im Auftrag der Auskunftei Schufa ging gut ein Drittel der rund 1000 Befragten (35 Prozent) davon aus, dass ihr Einkommen nicht ausreichen werde, um weiterhin den Lebensstandard zu halten. Die Hälfte der Verbraucherinnen und Verbraucher (50 Prozent) gab an, in den vergangenen sechs Monaten auf Ersparnisse zurückgegriffen zu haben.
Dabei sind die hohen Belastungen durch die hohe Inflation und vor allem die ansteigenden Energiekosten laut Creditreform noch längst nicht vollständig beim Verbraucher angekommen. „Der kommende Energiepreisschock zu Beginn des neuen Jahres wird für viele zu einer finanziellen Überforderung“, prognostizierte der Geschäftsführer von Creditreform Boniversum, Michael Goy-Yun.
Nicht mehr genügend Geld für Strom, Wasser und Wärme
Die Überschuldungsgefährdung vieler Verbraucher nehme derzeit drastisch zu und übersteige das Risikopotenzial der letzten Jahre bei weitem, heißt es warnend im Schuldneratlas. Nach Berechnungen der Creditreform-Tochter Microm laufen bis zu 19 Prozent der deutschen Haushalte Gefahr, ihre Rechnungen für Versorgungsleistungen wie Strom, Wasser, Gas und Wärme nicht sofort bezahlen zu können. Betroffen seien damit rund 7,8 Millionen Haushalte oder 15,6 Millionen Personen, sagte Goy-Yun.
Zum Vergleich: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes konnten 2021 - also vor der Preisexplosion bei Haushaltsenergien - schon 2,6 Millionen Menschen oder 3,2 Prozent der Bevölkerung in Deutschland ihre Wohnung aus Geldmangel nicht angemessen heizen.
Die derzeit drohenden Nachzahlungen für die Heizkosten seien geeignet, viele Verbraucher in nachhaltige Zahlungsschwierigkeiten, zum Teil auch direkt in die Überschuldung zu führen, heißt es im Schuldneratlas. Die Experten rechnen deshalb für das kommende Jahr mit einer deutlichen Verschlechterung der Verschuldungssituation in vielen Haushalten.
„Ein Anstieg der Überschuldungszahlen um rund 600.000 Fälle ist nicht unrealistisch“, heißt es im Schuldneratlas. Und es sei nicht auszuschließen, dass die Wucht des Nachzahlungsschocks und die schwer kalkulierbare Dauer der inflationären Tendenzen noch mehr Haushalte in die Überschuldung treiben.