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Erzählen von alten Märchen wieder im Trend

Von Silke Kettig 01.07.2008, 08:50

Minden/Bad Oeynhausen/dpa. - «Rüttel mich, schüttel mich, wir sind alle miteinander reif», sagt Märchenerzählerin Doris Franke in Minden und holt noch mal tief Luft, ehe sie wieder die Frau Holle mimt.

Mit ihrem ganzen Körper interpretiert sie das alte Volksmärchen der Brüder Grimm. Im Raum verbreitet sich aufmerksame Stille unter den älteren Damen des Frauenkreises. Das Erzählen von Märchen zu verschiedenen Anlässen kommt wieder. Jährlich bildet beispielsweise die Europäische Märchengesellschaft in Rheine acht neue Märchenerzähler aus.

Doris Franke hat ihr Handwerk im Erzählkreis des Deutschen Märchen- und Wesersagenmuseums in Bad Oeynhausen und auch bei der Europäischen Märchengesellschaft gelernt. «Das Wort Märchen bedeutet 'kleine Botschaft'», klärt die 55-Jährige auf. Die teilweise fabelhaften Geschichten hätten alle eine tiefe Bedeutung, die es als Erzähler zu verinnerlichen gilt. Rund 40 Märchen hat sie jetzt in ihrem Repertoire.

«Ein guter Märchenerzähler lernt die Geschichten nicht nur auswendig, sondern inwendig», erläutert sie. Durch das Erzählen müssten beim Zuhörer innere Bilder entstehen, die so lebendig wie ein eigener Film werden sollen. In Kirchengemeinden, bei Geburtstagen oder auch Hochzeiten tritt Doris Franke inzwischen auf. Im Hauptberuf ist sie Gemeindepädagogin.

Im deutschen Märchen- und Wesersagenmuseum in Bad Oeynhausen werden die Erzählkurse inzwischen auch wieder gut besucht. «Märchen erzählen von den Sollbruchstellen im Leben: Liebe, Ehe, Tod, Trauer», sagt die Leiterin Hanna Dose. Es würden Urbilder gezeigt und immer wieder stehen Menschen vor der Aufgabe, Lösungen für die Probleme zu finden. «Märchen sind die volle Realität. Sie sind nicht grausamer als das Leben selbst. Du kannst zum Ziel kommen, aber Du musst es Dir erarbeiten», das sei die Kernbotschaft, die vielen Märchen zugrunde liege. In dem kleinen Museum sind Bücher, Bilder, Illustrationen und Postkarten an den Wänden aufgehängt. Ein Ölgemälde von Rotkäppchen, eine Gans aus Pappmaché, goldene Äpfel oder auch Dukaten werden hier ausgestellt.

Im Durchschnitt dauert die Ausbildung zum Märchenerzähler bei der Europäischen Märchengesellschaft drei bis vier Jahre. Rund acht Erzählseminare und etwa vier Sachseminare muss man belegen, um nach einer Prüfung am Ende in die Gilde der Europäischen Märchengesellschaft aufgenommen zu werden. «Sehr viel Übung, Einfühlungsvermögen und auch Lebenserfahrung sind notwendig», berichtet die Vizepräsidentin Ingrid Jacobsen. Märchen gebe es in allen Kulturen: von Südamerika bis China von Island bis Südafrika. Fast 2700 Mitglieder zählt die Gesellschaft inzwischen.

Im Gemeindehaus in Minden beginnt Doris Franke mit dem zweiten Märchen: «In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat...» und die zehn Zuhörerrinnen fangen wieder an zu träumen. Kindheitserinnerungen werden wach. «Das Märchenbuch half mir, wenn ich krank war», sagt eine 71-jährige Teilnehmerin des Frauenkreises. Und mit viel Applaus bedenken sie die frischgebackene Märchenerzählerin, als das Happy End im Raum verklungen ist.

Europäische Märchengesellschaft: www.maerchen-emg.de

Deutsches Märchen- und Wesersagenmuseum: www.badoeynhausen.de/index.php?id=516