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Diätwahn im Kindergarten: «Nicht nur auf die Dicken gucken»

Von Irena Güttel 26.06.2007, 13:40

Berlin/dpa. - Nach den Debatten über Gewichtsprobleme könnte man meinen, alle deutschen Kinder sind zu dick. «Wir dürfen nicht den Fehler machen und nur auf die dicken Kinder gucken», meint dagegen die Bundestagsabgeordnete Julia Klöckner.

Die 34-Jährige ist Verbraucherbeauftragte der Unionsfraktion. Mit dem Thema Magersucht (Anorexie) beschäftigt sie sich, seitdem die Mutter eines magersüchtigen Mädchens in ihre Sprechstunde kam. «Sie war ganz verzweifelt, weil ihre Tochter durch die öffentliche Debatte um dicke Kinder noch mehr abnehmen wollte.» Das war vor zwei Jahren. Damals hatte die grüne Verbraucherministerin Renate Künast eine Diskussion um die Moppel-Kinder angestoßen.

Nach Schätzung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind in Deutschland 100 000 Frauen zwischen 15 und 35 Jahren magersüchtig. Angesichts der zwei Millionen übergewichtigen Kinder und Jugendlichen wirkt diese Zahl erstmal gering. Doch die Dunkelziffer liegt nach Ansicht der Experten viel höher, und die Gefahr der Krankheit ist nicht zu unterschätzen. 15 Prozent der Magersüchtigen hungern sich regelrecht zu Tode. Ursachen dafür gibt es viele. Doch nicht zuletzt trägt das von Medien und Modeindustrie propagierte, ultraschlanke Schönheitsideal entscheidend dazu dabei.

In der aktuellen Debatte um gesunde Ernährung kommt Magersucht nach Meinung von Klöckner zu kurz. Im Aktionsplan der Bundesregierung werden Anorexie und Bulimie zwar als «große gesundheitspolitische Herausforderung» bezeichnet, finden aber in dem fast zehnseitigen Papier in nur vier Sätzen Niederschlag. Eine einseitig geführte Diskussion verschärfe den Magersucht-Druck, warnt deshalb der Vorsitzende des Bundesfachverbands Essstörungen, Andreas Schnebel. Dieser «hysterische Umgang mit Gewicht und Essen» führe dazu, dass sich selbst Normalgewichtige zu dick fühlen. Magersucht betreffe nicht mehr nur junge Frauen, sondern auch zunehmend Männer und Kinder. Mittlerweile würden sich schon Kindergartenkinder damit beschäftigen, ob sie eine gute Figur haben, wie der Psychologe von seiner kleinen Tochter weiß.

Dass der Schlankheitswahn nicht nur Teenager betrifft, ergab auch eine 2005 veröffentlichte Studie der Universität Jena unter Schülern der 3. und 4. Klasse. Ein Drittel der normalgewichtigen Kinder gab darin an, dass sie lieber dünner wären. Zum Zeitpunkt der Studie versuchten 18 Prozent der Jungen und 19 Prozent der Mädchen abzunehmen. Einfluss auf das Essverhalten der Kinder hatten bei Mädchen vor allem die Gleichaltrigen und bei Jungen die Kritik der Eltern. Doch: «Es zeigte sich durchweg ein signifikanter Einfluss der Medien auf den Wunsch, dünner sein zu wollen», heißt es in der Studie.

Dass Magersucht und Unterernährung stärker in den Blickpunkt der Politik rücken, dafür will die CDU-Politikerin Klöckner im Juni im Bundestag bei einer Experten-Anhörung im Ernährungsausschuss werben. Einen ersten Sieg sieht sie schon errungen. Als im vergangenen Herbst eine Kandidatin aus Heidi Klums Casting-Show «Germany's Next Top Model» ausschied, weil sie nach Ansicht der Jury zu dick war, gab es laute Kritik am Magerwahn. In der gerade beendeten zweiten Staffel der Sendung waren dank der öffentlichen Empörung nun keine übermäßig dürren Mädchen zu sehen.

Ein generelles Verbot für Casting-Shows wie «Germany's Next Top Model» lehnt Klöckner jedoch ab. Auch ein Laufstegverbot für zu dünne Models, wie es in Italien vom nächsten an Jahr gelten soll, hält sie nicht für praktikabel. Stattdessen appelliert sie an die Modebranche und die Fotografen, nicht mehr mit ungesund dünnen Mädchen zusammenzuarbeiten. Auch das Bundesgesundheitsministerium erklärte, statt Verbote lieber auf eine freiwillige Verpflichtung der Modebranche zu setzen. «Wir müssen realistisch sein», begründet Klöckner. «Der Staat kann kein Taillenumfanggesetz erlassen.»