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Brauchtum Brauchtum: «Nie mehr Kratzer ins Parkett»

Von Frank Rumpf 04.12.2003, 20:07

Sankt Augustin/Berlin/dpa. - Neujahrsvorsätze sind meist von einigem Anspruch. Mehr Zeit der Familie widmen, zehn Kilo abnehmen, das Rauchen aufgeben, für einen Marathon trainieren oder gleich ein ganz neuer Mensch werden - so lauten bei vielen die traditionell in der Silvesternacht verkündeten Vorhaben. Doch oft werden die Vorsätze nach wenigen Tagen wieder aufgegeben. Dietmar Fernholz aus Sankt Augustin bei Bonn wundert das nicht: Die Kluft zwischen Ist- und Wunsch-Zustand sei oft einfach viel zu groß, sagt der Psychotherapeut und Arzt. Weniger kann also auch bei Neujahrsvorsätzen mehr sein.

Dass sich viele Menschen sehr hohe Zielvorgaben setzen, kennt auch Wolfgang Kinzinger: «Es ist ein urmenschliches Bedürfnis, von Zeit zu Zeit Tabula rasa zu machen und komplett neu anzufangen», sagt der Diplom-Psychologe und Vorsitzende der Evangelischen Konferenz für Familien- und Lebensberatung (EKFUL) in Berlin. Der Jahresbeginn biete sich als Gelegenheit dafür an. «Wenn das Ziel aber zu hoch gesteckt und die Motivation hauptsächlich an dem besonderen Datum festgemacht ist, stehen die Chancen schlecht.»

Dennoch spült vor Ultimo jeden Jahres eine Flut von Anregungen zur aktiven Selbsterneuerung durch die Medien, und zwar nicht nur in den Gesundheits- und Frauenressorts. Nobody is perfect - selten wird das so offensichtlich wie in den Vorsatzlisten für 2004. Teils geht es um echte Lebensverbesserung, teils grenzen die Ideen ans Absurde. Viele wollen die Ernährung umstellen, mehr Sport treiben, erholsamen Schlaf finden, die Sparquote trotz Rezession erhöhen oder endlich ihre Traumreise buchen. Aber auch das Handy in der Handtasche wiederfinden und weniger Kratzer ins Parkett machen gehören zu den «Projekten 04».

Neujahrsvorsätze haben - siehe Traumurlaub - auch wirtschaftliche Relevanz. Das geht bis zur logistischen Unterstützung für die Veränderungswilligen. Ein Hersteller von Klebestreifen wirbt zum Beispiel für rosafarbene Notiz-Zettelchen, mit denen sich die «guten Neujahrsvorsätze ermahnend auf den Kühlschrank» heften ließen. Das Paket gibt es mit 80 Blatt oder - für alle, die besonders viel verbessern wollen - mit 320 Blatt. Weil der Firma die meist kurze Haltbarkeitsdauer der Vorhaben bekannt ist, fehlt nicht der Hinweis auf die einfache, spurlose Entfernbarkeit der Zettel: «Kleberückstände» auf der Schranktür seien nicht zu befürchten.

Kaum zu glauben ist auch das Resultat einer Internet-Umfrage der in Hamburg erscheinenden Männerzeitschrift «Men's Health»: 38 Prozent der Teilnehmer erklärten, dass sie sich auch nach einem halben Jahr noch an ihre zu Neujahr gefassten Vorsätze hielten. In der selben Rubrik behaupteten allerdings auch 66 Prozent, sie tränken ihrer Gesundheit zuliebe täglich mehr als zwei Liter Flüssigkeit. Das klingt nicht gerade repräsentativ. In mehreren Umfragen in den USA, wo Neujahrsvorsätze ebenfalls ein Volkssport sind, gaben denn auch bis zu 90 Prozent der Teilnehmer zu, ihre hehren Absichten bereits binnen einer Woche nach Silvester wieder aufgegeben zu haben.

Woran liegt es? «Der Mensch ist träger, als wir alle denken», sagt Therapeut Fernholz. Der Schweizer Ökonom und Glückforscher Bruno S. Frey machte in der in Zürich erscheinenden «Weltwoche» die «Willensschwäche» des Homo sapiens für die katastrophale Bilanz bei der Verwirklichung von Neujahrsvorsätzen verantwortlich. Und auch er schätzt, dass die meisten Menschen an zu hohen Zielen scheitern.

«Wer heute sagt, er höre zu Silvester mit dem Rauchen auf, den nimmt doch keiner mehr ernst», stellt Kirchenmitarbeiter Kinzinger fest. Soweit sei es mit dem wie Böller und Schaumwein zum Jahresende gehörenden Brauch schon gekommen. Sein Kollege Fernholz findet das bedauerlich: Es sei eine gute und hilfreiche Tradition, die Zeit «zwischen den Jahren» dafür zu nutzen, inne zu halten und ohne äußeren Druck einer akuten Krise sein Leben gründlich zu überdenken, «am besten gemeinsam im Gespräch mit der Familie oder mit Freunden.»

Denn solche Fixpunkte im Lebensalltag werden selten - gerade für alle, die sich nicht mehr an kirchliche Riten und Festtage gebunden fühlen. Ihnen bleiben Silvester und Neujahr neben dem Geburtstag als Marken, die das Vorbeiziehen der Zeit verdeutlichen und dazu anregen, ein Zwischenfazit zu ziehen und sich eventuell neue Ziele zu setzen.

«Damit die Richtungsänderung gelingt, sollte sie aber immer nur um Nuancen geschehen», rät Fernholz. Also keine Rundum-Erneuerung auf einem Schlag, denn das könne «nur schief gehen.» Auch sollte man es nicht bei dem Fassen des Vorsatzes belassen, sondern auch den ersten konkreten Schritt planen: «Wenn der viel beschäftigte Geschäftsmann sich entschließt, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen, kann er zum Beispiel gleich einen ersten gemeinsamen Spaziergang für den Neujahrstag verabreden.» Darüber hinaus scheitern Vorsätze laut Fernholz schnell dann, wenn der Druck allein von außen kommt. Ein schlechtes Gewissen oder Angst vor Streit mit dem Partner reichen nicht: «Man muss die Veränderung, die man anstrebt, selber wollen.»

Zu guter Letzt sollte die Umsetzung des Vorsatzes Spaß machen, damit die Motivation erhalten bleibt, empfiehlt Dietmar Fernholz. Der lebensgeprüfte Philosoph Friedrich Nietzsche sah es also zu kriegerisch - oder beschränkt auf Masochisten - wenn er riet: «Du musst jeden Tag auch deinen Feldzug gegen dich selber führen!»