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Auch das Gute sehen: So gelingt die Lebensbilanz

Von Florian Sanktjohanser 24.02.2010, 08:11

Trier/Köln/dpa. - Es sollte eigentlich eine Zeit des Aufbruchs sein, der Start in ein neues Leben. Doch für manche Menschen ist der Eintritt ins Rentenalter eine Phase der Krise und der Ernüchterung.

Denn eines wird nun klar: So mancher Lebenstraum ist geplatzt und wird sich nicht mehr verwirklichen lassen. Um nicht in Verbitterung zu versinken, sollten Neu-Rentner ehrlich Bilanz ziehen - und auch die guten Seiten sehen.

Mit dem Beginn der Rente ist das Berufsleben, eine wesentliche Etappe des Lebenswegs, abgeschlossen. Besonders Männer wurme es oft, wenn sie ihre selbstgesteckten Karriereziele nicht erreicht haben, sagt Wolfgang Drehmann, Leiter der Lebensberatung im Bistum Trier. Andere seien verbittert, weil sie viel in ihre Kinder investiert haben und nun glauben, zu wenig zurückzubekommen.

Der erste Schritt zu einem positiven Umgang mit geplatzten Lebensträumen ist laut Drehmann, sich das und die Gefühle dazu einzugestehen. Erst dann sei es möglich, sich damit zu versöhnen. Der entscheidende zweite Schritt sei, auch das Gute und Gelungene in der eigenen Biografie zu sehen und sich darauf zu konzentrieren: «Wer vielleicht den falschen Beruf ergriffen hat, sollte sich überlegen, was er trotzdem darin erreicht hat.»

Prof. Hartmut Radebold rät, mit dem Partner und den Kindern über das eigene Leben zu sprechen. Oft ermöglichten erst sie einen ausgewogenen Blick zurück, erklärt der emeritierte Psychoanalytiker aus Kassel. Familie und Freunde seien auch die beste Versicherung gegen Resignation und Rückzug, ergänzt Drehmann. Und wer in Verein oder Ehrenamt eingebunden ist, könne den Wegfall der beruflichen Kontakte leichter kompensieren.

Außerdem helfe die «Weisheit des Alters», sagt Christine Sowinski vom Kuratorium Deutsche Altershilfe in Köln: «Viele werden gelassener. Man stellt nicht mehr so hohe Absprüche an sich, das Sich-Beweisen-Müssen lässt nach.» Andere änderten im Nachhinein ihre Haltung und versöhnten sich so mit der eigenen Biografie. Aber sich anzulügen sei der falsche Weg. Es gehe vielmehr darum, im Kopf Klarheit zu schaffen: Ist es wirklich so schlimm, dass etwas nicht geklappt hat? Hatte es vielleicht sogar Vorteile?

«Lebensträume gibt es nicht», sagt Christian Carls von der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe in Düsseldorf. Es gebe nur Herzensanliegen, und die wandeln sich im Laufe des Lebens. Das zu erkennen, hält Carls für wichtig. Denn erst dann ließen sich hinter vermeintlichen Lebensträumen aktuelle Herzensanliegen entdecken - die sich noch umsetzen lassen.

Zu spät ist das mit Mitte 60 nicht. «In dem Alter kann man noch viel machen», sagt Sowinski. Schließlich haben einige noch 20 Jahre vor sich, ein Viertel ihres Lebens. Und viele Neu-Rentner seien heute noch fit genug, um das zu tun, was bisher zu kurz kam - auch in geistiger Hinsicht: «Schauen Sie mal, wer ins Museum geht oder Kulturreisen macht, das sind fast alles Senioren.»

Radebold empfiehlt Senioren, sich zu überlegen, welche Wünsche seit der Kindheit liegengeblieben sind - und sie zu verwirklichen. «Lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen, auch wenn die Umgebung erstmal sagt, das sei kindisch.» Radebold selbst ist 74. Vor zwei Jahren suchte er sich einen Trommellehrer. «Ein Meister werde ich nicht mehr», sagt er. Aber darum gehe es auch nicht.

Die Zahl der Menschen, die im Alter in eine Beratung kommen, nimmt zu, sagt Wolfgang Drehmann von der Lebensberatung im Bistum Trier. Und auch die Zahl der Therapien wachse. «Meist kommen Frauen zur Beratung. Aber seit 20 Jahren werden es auch immer mehr Männer, die sich den Fragen stellen und sie nicht mit Alkohol verdrängen.» Der emeritierte Psychoanalytiker Prof. Hartmut Radebold aus Kassel schätzt, dass mehr als ein Viertel der Senioren eine leichte Depression hat.