Abendgymnasium Abendgymnasium: Auf Umwegen zum Abi
Halle (Saale)/MZ. - Mehrere Wege führen zum Abitur. Einer für Spätzünder und junge Menschen, die sich nach einer Berufsausbildung neu orientieren möchten, führt über Schulen des zweiten Bildungsweges. Davon gibt es im Land zwei - in Halle und in Magdeburg. Wer darf Schüler werden, was ist der Abschluss wert? Über solche und andere Fragen sprach Lutz Würbach mit Heidemarie Klein, Leiterin der Schule des zweiten Bildungsweges in Halle.
Was ist das Abitur an Ihrer Schule wert?
Klein: Das Abitur ist vollwertig.
Wer darf auf die Schulbank?
Klein: Das hängt ein bisschen davon ab, ob wir vom Kolleg oder Abendgymnasium sprechen. Am Kolleg absolvieren junge Leute die elfte bis 13. Klasse, die bereits eine berufliche Ausbildung abgeschlossen oder eine dreijährige berufliche Tätigkeit absolviert haben. Zeiten wie Dienst in der Bundeswehr oder freiwilliges soziales Jahr werden auch angerechnet.
Wenn ich über Jahre in der Kaufhalle Regale einräume, zählt das auch?
Klein: Es muss eine geregelte berufliche Tätigkeit sein, das ist das Kriterium. Abgesehen davon kann sogar ein Jahr Arbeitslosigkeit mit angerechnet werden.
Wie sieht das beim Abendgymnasium aus?
Klein: Die Schüler dort sind berufstätig. Das müssen sie in ihrer dreijährigen Schulzeit auch mindestens zur Hälfte sein, erst dann besteht die Chance auf Bafög. Diese Beihilfe kann im Übrigen für Schüler am Kolleg schon vom ersten Tag an gezahlt werden, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind.
Wie alt sind Ihre Schüler im Schnitt?
Klein: In der Regel sind sie zwischen 20 und 30 Jahre alt. Ich hatte aber auch schon Mutter und Tochter gemeinsam im Unterricht, oder einen Mann Ende 40. Aber das ist die Ausnahme.
Wer tut sich den Stress an?
Klein: Es gibt tatsächlich die sogenannten Spätzünder, die irgendwann die Freude am Lernen für sich entdecken. Dann haben wir die jungen Leute, die nach ihrer Berufsausbildung entweder sagen, dass es das nicht ist, was sie den Rest ihres Lebens machen möchten. Oder im Gegenteil, sie finden so viel Spaß daran, dass sie sich auf ihrem Fachgebiet weiter qualifizieren wollen. Gerade im medizinischen Bereich kommt es häufig vor, dass Fachkräfte sich entschließen, nun auch Medizin studieren zu wollen. Und dann gibt es die Gruppe, die mal am Gymnasium war und dort gescheitert ist und vielleicht nach dem Wechsel zurück zur Realschule auch nicht zurecht kam. Für sie ist es der zweite Anlauf, die Voraussetzung für das Studium zu schaffen.
Und manche Eltern schöpfen neue Hoffnung.
Klein: Genau, auch für sie ist unsere Schule genau richtig. Sie haben natürlich immer das Beste für ihr Kind gewollt, mussten aber irgendwann einsehen, dass es das Abi nicht im ersten Anlauf schaffen kann. Nun also unternimmt es den zweiten Anlauf. Aber im Ernst, die persönliche Reife ist nicht zu unterschätzen. Wir haben Schüler mit Hauptschulabschluss, die nach einer Berufsausbildung plötzlich Lust aufs Abi haben. Und es auch schaffen. Da muss sich schon die gesamte Persönlichkeit ein großes Stück weiterentwickelt haben.
Aber leichter wird das Lernen mit zunehmendem Alter dennoch nicht.
Klein: Ganz bestimmt nicht, aber die Männer und Frauen sind alle freiwillig in unserer Schule. Sie haben eine gewisse Reife, haben Lebenserfahrung, zum Teil schon Familie. Es gibt Schüler, die als leitende Angestellte Geld verdient haben und nun wieder auf der Schulbank sitzen, weil sie sich eine andere berufliche Zukunft vorstellen können. Aber wie dem auch sei, die meisten Schüler müssen erst einmal das Lernen wieder lernen. Und wenn ich ehrlich bin, vor jedem Schüler des Abendgymnasiums habe ich höchsten Respekt. Tagsüber arbeiten, nach Feierabend lernen, dass ist schon hart.
...und hält nicht jeder durch?
Klein: Unsere Schüler fallen nicht mehr unter die Schulpflicht, sie dürfen jederzeit aufhören. Die Abbrecherrate liegt schätzungsweise bei zehn Prozent. Das ist sicherlich nicht bedenklich.
Kennt der zweite Bildungsweg auch Sitzenbleiber?
Klein: Gerade die ersten Monate sind hart. Es gibt in Sachsen-Anhalt keinen Vorkurs. Wir steigen also gleich mit dem Stoff der elften Klasse ein. Damit sind einige überfordert und wiederholen deshalb das Schuljahr. Also ja, es gibt bei uns auch Sitzenbleiber.
Und wenn jemand merkt, es reicht bei aller Anstrengung doch nicht zum Abitur?
Klein: Wie gesagt, jeder kann jederzeit aufhören. Aber alternativ besteht ja noch die Chance, zumindest die Fachhochschulreife zu erwerben. Dazu reicht der Abschluss der zwölften Klasse mit einer Mindestpunktzahl, die sich aus dem Bewertungssystem ergibt. Wenn wir dann noch die erfolgreiche Berufsausbildung hinzuziehen, kann demjenigen die Reife für die Fachhochschule durchaus bescheinigt werden.
Was kostet den Schülern der zweite Bildungsweg?
Klein: Nichts, abgesehen von Büchern oder Unterrichtsmaterialien. Und noch eine gute Nachricht: Unsere Schule hat Ferien wie alle anderen auch.
Angenommen, ich habe gerade meine Ausbildung abgeschlossen, der Betrieb übernimmt mich nicht und ich will deshalb die Zeit nutzen und das Abitur nachholen. Ist es zu spät für dieses Jahr?
Klein: Der geschilderte Fall ist gar nicht so selten. Eigentlich ist im Juni Bewerbungsschluss für das folgende Schuljahr, aber aus besagten Gründen nehmen wir auch noch im September Schüler auf, ausnahmsweise auch noch im Oktober. Abgesehen davon ist der Geburtenknick auch bei uns angekommen. Es gibt weniger junge Leute und zugleich mehr Berufseinsteiger, die von ihren Firmen übernommen werden. Damit verliert unsere Schule potenzielle Schüler, die zum Beispiel Zeiten von Arbeitslosigkeit überbrücken wollen.
Wie viele Schüler haben Sie?
Klein: Etwa 300, davon ungefähr 200 im Kolleg.