Zum Tode von Henri Cartier-Bresson Zum Tode von Henri Cartier-Bresson: Zeuge eines Zeitalters von Krise und Umbruch
Halle/MZ. - Diesmal ist es amtlich: Wie am Mittwochabend bekannt wurde, starb Cartier-Bresson im Alter von 95 Jahren bereits am Dienstag in Südfrankreich in seinem Wohnhaus "Le Claux" nördlich von Marseille. Also wird die jüngste Rückschau auf sein Werk, die im Berliner Martin-Gropius-Bau seit Mitte Mai mehr als 70 000 Besucher anzog, unvermittelt zur letzten aus seinen Lebzeiten.
Warum ein Fotoreporter, der von der Kunst herkam und auch wieder zu ihr zurückkehrte, einen solch universalen Zuspruch erfahren konnte, das erklärt dieser alle Lebensstationen umfassende Querschnitt. Dutzende, wenn nicht hunderte von seinen Aufnahmen haben sich ins Gedächtnis der Epoche unauslöschlich eingegraben.
Alltagsszenen zum Beispiel: Der französische Hosenmatz auf einem Bild von 1952, der mit Weinflaschen unter den Armen lachend nach Hause läuft. Oder die Porträts von großen Geistern: Jean-Paul Sartre 1946 im Nebel auf dem Pont des Arts in Paris. Oder festliche Ereignisse: Die Gesichter der Zuschauer 1938 auf dem Trafalgar Square in London bei der Krönung König Georgs VI. Oder die großen Umwälzungen: der chinesische Bürgerkrieg, die Entkolonialisierung in Indonesien. Oder weltgeschichtliche Zäsuren, symbolhaft verdichtet wie bei der Szene von West-Berliner Mauerspähern von 1962.
Intuition trieb ihn stets an den richtigen Ort zur richtigen Zeit: Nach Indien, als Gandhi ermordet wurde, nach China, als die Kommunisten die Macht übernahmen. Unverwechselbar ist aber sein fotografischer Blick. Er prägte das Wort vom "entscheidenden Augenblick" und war zugleich ein Meister der Bildkomposition. Das verband journalistischen mit künstlerischem Anspruch, wie er für die Agentur "Magnum", von im mitbegründet, bestimmend wurde. Etwa in jenem Dokument deutscher Nachkriegsagonie, aufgenommen als Cartier-Bresson 1945 die amerikanisch besetzten Gebiete bereiste. In einem Auffanglager befreiter Zwangsarbeiter in Dessau-Kochstedt wird er Zeuge, wie eine ehemalige Gefangene eine Gestapo-Informantin erkennt und sie hasserfüllt anschreit. Die Erzählung wird ganz in den emotionalen Gegensatz der Akteurinnen gebannt.
Als Cartier-Bresson 1931 die neu eingeführte Leica-Kamera für sich entdeckte, war ihm auch die Fotografie als künstlerisches Medium erst bewusst geworden. Hergekommen von der Porträtmalerei, erklärte er die Kamera zum Skizzenblock, "zum Instrument von Intuition und Spontaneität". Aber es ist das strenge grafische Gerüst, das seinen Bildern Halt gibt. Und darin eine Weltsicht einschließt, die von großem Ernst, von Schicksalhaftigkeit und Drama geprägt ist. Das gibt dem Werk auch einen Aspekt zwanghafter Wiederholung. Mit denselben Mitteln die Leichtigkeit und Heiterkeit des Seins darzustellen, war einem anderem Großmeister vorbehalten, dem Kollegen und Zeitgenossen Robert Doisneau.
Retrospektive im Martin-Gropius-Bau Berlin, bis 15. August, ab 11. August täglich bis 22 Uhr verlängert.
