Zum Tod von W. G. Sebald Zum Tod von W. G. Sebald: Das Gestern lebt immer und überall

Halle/MZ. - Der Schriftsteller Winfried Georg Sebald,1944 in Wertach im Allgäu geboren, schriebfortgesetzt an einer europäischen Topografieder Verletzungen, jenes Unglücks, das Antriebund Begleiterscheinung jedes Modernisierungsschubesist. Sebald begriff die privaten Fälle vonGlück und Unglück als Zustände eines großen,die Generationen verbindenden Flusses vonpsychosozialer Energie. Nicht mit den Tierensprach dieser Mann, sondern mit Städten, Häusern,Straßen.
Unglück und Glück kann, darf bei Sebald gelerntwerden, wie Energie nicht verlorengehen. Woraufes ankommt ist allein das: Ein Sensorium fürdas Abgelebte zu entwickeln, das als ein Abgelegtesuns noch immer umgibt. Sebald sagte es so:"Da die Dinge uns (im Prinzip) überdauern,wissen sie mehr von uns als wir über sie:sie tragen die Erfahrungen, die sie mit unsgemacht haben, in sich und sind - tatsächlich -das vor uns aufgeschlagene Buch der Geschichte".Seine so psychoanalytisch subtile wie kulturhistorischausschweifende Methode des Erfahrung-Dechriffrierenshatte Sebald zuletzt im Frühjahr dieses Jahrespräsentiert.
"Austerlitz" hieß der große Rechercheroman,der die Geschichte eines Mannes erzählt, demals jüdisches Kind in Nazideutschland erstdie Familie, dann die Heimat und mit der Spracheder Name geraubt worden sind. In Deutschlandstieß das Seelenwanderbuch - wie noch jederTitel von Sebald - auf gebremste Euphorie:Der emotional und sozial verklemmte Vorwurfvon Kitsch und Kauzigkeit bildete den Generalbassder Kritik. Ganz anders in England und denUSA. "Austerlitz" wurde von der "New YorkTimes Book Review" zum Buch des Jahres gewählt;Sebalds Lesereise glich einem Triumphzug."Austerlitz" ist der Höhepunkt einer Recherche-Obsession,die stets in die Welt der Aus- und Abgeschlossenenführte, querfeldein durch den europäischenUnglücks-Atlas, eine Reise, die uns Bücherbescherte wie "Schwindel. Gefühle", "Die Ausgewanderten","Die Ringe des Saturn". Sebald, promovierterLiteraturwissenschaftler, entschloss sicherst mit 40- und lange nach seinem Wechselnach Ostengland - zu schreiben; ein atemberaubendmerkwürdiges und eigenständiges Werk liegtvor, das seit kurzer Zeit in der Nobelpreis-Warteschleifekreiste.
Es gibt keine Zeit, sagt Sebald, "sondernnur verschiedene, ineinander verschachtelteRäume, zwischen denen die Lebendigen und dieToten hin und her gehen". Sebald ist fortgegangenmitten unter uns: 57-jährig starb er in Norwichbei einem Verkehrsunfall.
W. G. Sebald: "Austerlitz", Hanser, 424Seiten, 46 Mark.