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Zeugnis des Überlebens Zeugnis des Überlebens: Wohnort: Polenbaracke Parsevalstraße

Von Bärbel Helbig 27.04.2005, 19:07

Bitterfeld/MZ. - Auf dem Tisch im Saal des Rathauses liegt eine am 17. Dezember 1942 ausgestellte Quittungskarte der Betriebskrankenkasse der i. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft Bitterfeld-Wolfen. "Leokadia Dobrzynska, Wohnort: Bitterfeld, Polenbaracke im Aluminiumwerk, Parsevalstraße".

Leokadia Dobrzynska war in Wirklichkeit Kitty Felix, eine polnische Jüdin, die ein berührendes Buch über Flucht, Zwangsarbeit, Gestapohaft und ihr Überleben im Vernichtungslager Auschwitz geschrieben hat. Die Leipziger Schriftstellerin Roswitha Geppert, die die Übersetzung aus dem Englischen literarisch bearbeitet hat, las am Dienstag in einer Veranstaltung im Bitterfelder Rathaus aus diesem Buch.

Unter anderem die Passage, in der Kitty Hart-Moxon die Arbeit im Aluminiumwerk und die ständige Angst, als Jüdin enttarnt zu werden, beschreibt. Während ihr Chef Meyer durchaus menschliche Seiten erkennen lässt, sind die Verhöre im Bitterfelder Gestapoquartier - dorthin wurde sie nach der Aufdeckung ihrer wahren Identität gebracht - eine Tortur. Doch kein Vergleich zu dem Unvorstellbaren, das sie 18 Monate lang als Häftling mit der Nummer 39934 in Auschwitz-Birkenau erlebte - und überlebte.

In Bitterfeld gehörte sie als junges Mädchen zu den insgesamt 15 000 Zwangs-, Fremd- und Ostarbeitern sowie Kriegsgefangenen, die in der chemischen Industrie für die an die Front geschickten Männer schuften mussten, wie Uwe Holz, Direktor des Kreismuseums, weiß.

Eine im Anschluss an die Lesung gezeigte Dokumentation ergänzt das Gehörte auf eindrucksvolle Weise. Der Videofilm zeigt, wie Kitty Hart-Moxon 1978 mit ihrem ältesten Sohn das Lager Auschwitz besucht, mit ihm über die Lagerstraße geht, auf der die Menschen in die Gaskammern getrieben wurden. Als sie in Richtung Krematorium schaut, erinnert sie sich an den eigentümlichen Gestank verbrannten Fleisches. Sie findet den berüchtigten Block 25, um den alle einen Bogen machten und über den nicht gesprochen wurde, die umkämpfte Latrine und den Zaun, der immer beleuchtet war. Nun macht sie die große Leere betroffen. Zu ihrem Sohn sagt sie: "Kannst du dir vorstellen, dass es hier vor Menschen gewimmelt hat?" Dankbar erinnert sie sich an ihre Mutter und berichtet ihrem Sohn, wie sie von seiner Großmutter in den 18 Monaten wieder und wieder davor bewahrt wurde, wie viele andere Leidensgefährtinnen aufzugeben.

Zu der Lesung im Bitterfelder Rathaus eingeladen hatte Eva-Maria Engel, Leiterin des Stadtarchivs. Bei Recherchen zum Stadtjubiläum war eine Bitterfelderin auf die Biographie der Zwangsarbeiterin gestoßen und hatte das Stadtarchiv darauf aufmerksam gemacht. Eine Anfrage beim Landesarchiv Merseburg zu der auf den Namen Leokadia Dobrzynska ausgestellten Karteikarte hatte Erfolg. Eine Kopie der Quittungskarte bekam auch Kitty Hart-Moxon, die im englischen Birmingham lebt.

Kitty Hart-Moxon "Wo die Hoffnung erfriert", Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, ISBN 3-374-01871-8