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Zeitgeschichte - Ost-West-Gespräch Zeitgeschichte - Ost-West-Gespräch: Briefwechsel zwischen Marxisten und konservativen Verleger

Von christian eger 02.12.2015, 19:06
Freunde über Grenzen hinweg: Wolf Jobst Siedler (Foto) und Ernst Engelberg.
Freunde über Grenzen hinweg: Wolf Jobst Siedler (Foto) und Ernst Engelberg. dpa Lizenz

Halle (saale) - Im November 1991 ist Schluss mit lustig. Das will der ostdeutsche Historiker Ernst Engelberg (1909-2010) nicht über die DDR lesen müssen, was ihm da als ein Buch des Siedler Verlages in die Hände geraten ist. Die unter dem Titel „Deutschland, was nun?“ verbreitete Mitschrift eines Gespräches zwischen dem Historiker Arnulf Baring und dem Verleger Wolf Jobst Siedler (1926-2013), zwei Vorzeige-Westberlinern, die rhetorisch unter den Akademikern des abzuwickelnden Ost-Staates keine Gefangenen machen.

Starker Tobak für Engelberg

Die DDR, ist da zu lesen, habe „fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt.“ Nicht ohne Folgen: „Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal: Sein Wissen ist über weite Strecken unbrauchbar.“ Die Ostler seien „nicht weiter verwendbar: Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktgesellschaft einbringen könnten.“

Starker Tobak für Engelberg, der 1948 aus dem Exil in der Türkei in den Osten Deutschlands übergesiedelt war, um genau dort seine Karriere als Historiker zu starten. Er selbst, seine Kollegen, die ostdeutsche Mitwelt: alles „verzwergt“ und „verhunzt“? Von Baring, dem notorischen Empörer, war nichts anderes zu erwarten. Aber von Siedler? Dem elegischen Beschwörer des alten Preußen („Wanderer zwischen Oder und Nirgendwo“), dem Verleger der Propyläen-Weltgeschichte, dem immer fairen Freund, der es geschafft hatte, von 1985 an das Lebenswerk Engelbergs - die große Bismarck-Biografie - in West und Ost zeitgleich auf den Markt zu bringen?

Unfassbar für Engelberg. Der schreibt denn auch buchpostwendend aus Berlin-Treptow nach Berlin-Dahlem. Er sendet dem „lieben Wolf“ ein Heiner-Müller-Zitat: „Zwischen Stadt und Stadt nach der Mauer der Abgrund“. Mit dem persönlichen Zusatz: „Zugegeben, es schmerzt. Es ist wohl besser, wenn wir erst noch etwas Wasser die Spree hinab fließen lassen; besser für uns beide und unser bislang immer gutes Verhältnis.“

Das Spree-Wasser muss zwei Jahre fließen, um die alte Vertrautheit ganz wiederherzustellen, zeigt der jetzt von dem Engelberg-Sohn Achim herausgegebene Briefwechsel zwischen dem Historiker und seinem Verleger. Ein Buch, das niemand erwartet hatte. Und das rundum überrascht. Denn es ist möglich: In der Sache kein Blatt vor den Mund zu nehmen, und doch mit Gewinn einander persönlich verbunden zu sein. So erklärt 1985 der Verleger, freilich mit einer lässigen Fontane-Anspielung, dass es ihm nun möglich sei, „deutlicher denn je die historische Kraft der Arbeiterbewegung“ zu erkennen.

Dass das gelingen konnte, war dem unkonventionellen Naturell der Brieffreunde zu danken: Weder gehörte Engelberg zum DDR- noch Siedler zum BRD-Mainstream. Engelbergs Befund, dass Erich Honecker der „größte Kümmerling“ sei, „den die deutsche Arbeiterbewegung hervorgebracht“ habe, hätte Siedler nie widersprochen. Der erklärte seinem marxistischen Freund, dass er „den Weg Ihres Deutschlands in den Sozialismus“ als eine solche „Fehlentwicklung“ begreife, wie den „Bismarcks in den Nationalstaat“. Beide Autoren litten unter der intellektuellen Wurstigkeit und offiziellen Geschichtsverlorenheit ihrer unmittelbaren Gegenwart - und sie liebten das Preußen vor 1871. „Es tut mir leid: Ich bin wieder ganz Deiner Meinung“ zitiert das Buch im Titel ein Bonmot von Siedler.

Marxistische Bismarck-Biografie

Der Verleger war es, der 1980 den Kontakt zu Engelberg gesucht hatte, um dessen marxistische Bismarck-Biografie auf den Weg zu bringen. Ein Werk, dessen Veröffentlichung einer Sensation gleichkam - mit großem gesellschaftlichen Bahnhof in Ost und West. Mit dem Austausch entwickelt sich die Freundschaft. Siedler ist für Engelberg auch Lektor und Berater aus historischer Kennerschaft; jede seiner sachlichen und stilistischen Anmerkungen ist von Interesse. Lebensweltlich ist man einander ohnehin nahe: Der Kommunist Engelberg wurde 1934 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu 18 Monaten Zuchthaus verurteilt, nach deren Verbüßung er zunächst in die Schweiz emigrierte. Siedler, 17 Jahre jünger als Engelberg, war 1944 als Schüler gemeinsam mit dem Sohn des Schriftstellers Ernst Jünger wegen „Wehrkraftzersetzung“ zu neun Monaten Zuchthaus verurteilt worden, die in Front-„Bewährung“ verwandelt wurde.

Mehr als 120 Briefe der Jahre 1980 bis 2006 bietet das aus dem Engelberg-Nachlass herausgegebene Buch. Jedes Schreiben wird von Achim Engelberg zeit- und personengeschichtlich anmoderiert. So entsteht die Chronik einer aufs Schönste eigensinnigen Freundschaft. Man hat sich viel zu sagen. Im Zuge des Helmut-Schmidt-Sturzes 1982 warnt Engelberg aus „Erfahrung“ vor dem „reinen Liberalismus“ (in dem „naturnotwendig“ die „Unzuverlässigkeit und Verräterei“ stecke), Siedler rechnet mit dem linken Jargon seines Freundes ab („Ist es notwendig, gegen die Geschichte zu polemisieren?“). Zwischen Dahlem und Treptow fliegen die Worte hin und her. Gern auf Differenz aus, nie auf Linie. Bis zuletzt. Als Engelberg auf dem Ehrenhain für die Verfolgten des Nazi-Regimes in Berlin-Baumschulenweg begraben wird, ertönt Glenn Millers Klassiker „Over The Rainbow“. (mz)

Freunde über Grenzen hinweg: Wolf Jobst Siedler und Ernst Engelberg (Foto).
Freunde über Grenzen hinweg: Wolf Jobst Siedler und Ernst Engelberg (Foto).
dpa Lizenz
Achim Engelberg: „Es tut mir leid: Ich bin wieder ganz Deiner Meinung“, Siedler Verlag, 272 Seiten, 24,99 Euro
Achim Engelberg: „Es tut mir leid: Ich bin wieder ganz Deiner Meinung“, Siedler Verlag, 272 Seiten, 24,99 Euro
Siedler Lizenz