Zapfenstreich für Nackedeis
berlin/MZ. - Eines kann man ihnen nun wirklich nicht vorwerfen: Sie haben immer alles gegeben, am liebsten ihr letztes Hemd. Manchmal ist ihnen auch plötzlich ganz heiß geworden, dann mussten sie flink das Kleid runterreißen. Oder der Reißverschluss hat irgendwie geklemmt, darum blieb die Bluse offen. So oder so ähnlich lauteten die Begründungen für Rosie, Josie, Holly und Molly, die sich täglich entweder hemdlos oder kleidfrei und auf jeden Fall oben offen auf der Titelseite der Bild-Zeitung räkelten. Damit ist nun Schluss.
"Bild schafft Seite-1-Girl ab", titelte die Bild-Zeitung am Freitag auf Seite eins. Nach 28 Jahren und mehr als 5 000 spärlich bekleideten Frauen will Springers Boulevardblatt künftig ohne Rosie und Josie auf dem Titel auskommen und begründete den epochalen Schritt damit, dass sich das vor allem viele Frauen immer gewünscht hätten. Ja gut, und die Männer?
Die haben die Entscheidung laut Bild-Zeitung sogar getroffen. Am Donnerstag war Frauentag, weshalb Bild-Chefredakteur Kai Diekmann, noch so ein PR-Coup, allen Frauen in der Redaktion freigegeben hatte. Und so wurde die Freitagausgabe der Bild-Zeitung ausschließlich von Männern gemacht, die natürlich nichts Eiligeres zu tun hatten, als Rosie ihr Hemd wiederzugeben und Josie ihr Kleid.
"Es ist vielleicht ein kleiner Schritt aus Sicht der Frauen", haben die Bild-Männer geschrieben und, ganz nach Bild-Manier sowie in jeder Hinsicht extra groß, die schöne Eva aus Polen dazugestellt: "Ich bin die letzte…", steht über der großen Eva. Die erste hatte sogar noch einen Nachnamen. Evelyn Rillé hieß sie und ließ am 29. März 1984 nicht nur ihr langes Haar sehr schön nach vorne, sondern auch sonst alle Hüllen fallen.
Zuvor gab es Nacktheit auf dem Titel nur in journalistisch relevanten Fällen - etwa als die Bild-Zeitung Anfang der Siebziger den Trend erkannte, beim Sonnenbad das Oberteil wegzulassen. "Der Busen in der Brise - Bikinis in der Krise", knittelten die Kollegen damals und zeigten eine junge Frau bikinifrei in der Brise.
Gewiss kann man der Bild-Zeitung so einiges vorwerfen, aber um das Genre der Bildbeschreibung hat sie sich wie kein anderes Blatt verdient gemacht. In überaus heiterer Erinnerung etwa bleibt der "Mi, Ma, Mausesack" Ende der Neunziger, in dem eine gewisse Biggi vorgestellt wurde. Biggi posiert auf einem Sessel in Flickenjeans und sonst nichts. "Flicken, Flicken, nichts als Flicken", beginnt die Erläuterung, auf zwölf Zeilen wird von den vielen Löchern in Biggis Hose berichtet und dass es darin "Mi, Ma, Mausesack" ungemütlich ziehe. Doch dann naht "Tü-ta-ta" der Meister mit seinem "Nähnadel-Notprogramm". Darauf muss man erstmal kommen.
Aber immerhin war die damalige Bild-Zeitungs-Praktikantin und spätere Bild-Zeitungs-Chefredakteursgattin Katja Kessler für solcherart Texte verantwortlich. Derartige Gedankenflüge waren zuletzt eher die Ausnahme.
Gereimt wurde zwar immer noch, aber meist reichte es dann nur zu Sachen wie "Trägt die Rosie rote Socken, will sie einen Kerl anlocken".
Eine Neuerung in der, wenn man das so sagen will, Seite-1-Mädchen-Geschichte war dann das Bild-Girl. Um näher an den Leser und auch an die Leserin zu kommen, lüpften nun deutsche Hausfrauen das Mieder. Dazu mussten sie Auskunft geben über das erste Mal, den, haha, lustigsten Sex oder als was sie im Falle einer Wiedergeburt am liebsten erscheinen würden.
Statt der ewigen britischen Busenwunder, die in der dortigen Boulevardpresse traditionell auf der dritten Seite überraschen, war es nun die Pflegekraft Martina, 31, aus Rostock, die auf spontanen Sex im Wald steht und im nächsten Leben gern ein Pferd wäre. Das will nun wirklich keiner wissen und eigentlich auch nicht sehen.
Außerdem wurde die Bild-Zeitung in Sachen Seite-1-Mädchen immer unzuverlässiger. Der Versuch, auch halbnackte Kerle abzulichten, bewährte sich nicht. Um den Familienfrieden am Wochenende zu wahren, verzichtete das Blatt sonnabends auf rote Ringelsocken oder wenigstens eine Rostocker Pflegekraft und druckte stattdessen süße Tierbilder. Sogar in der Woche kam es immer öfter zu Unregelmäßigkeiten. Und jetzt soll alles vorbei sein.
Ist es selbstverständlich nicht, denn ganz ohne blanke Brust geht es in Springers großem Boulevardblatt ja nicht. "Natürlich will Bild auch künftig sexy sein", schreibt das Blatt. Deshalb räumen Holly, Molly und die große Eva auch nur den Titel, fortan klemmt der Reißverschluss eben ein paar Seiten weiter im Inneren der Zeitung.