Wolfgang Niedecken Wolfgang Niedecken: «Ich habe das Ende gesehen»
Halle (Saale)/MZ. - Die Seite, auf der es ihn erwischt hat, ist angekreuzt. Der BAP-Chef ist schmaler im Gesicht geworden. Das sei keine Folge der schweren Erkrankung, sagt er, sondern seines täglichen Sportprogramms: Jeden Morgen eine Stunde auf dem Rad. Solche Ertüchtigung habe er vor dem Schlaganfall vernachlässigt. Dann erzählt er, bei Tee und Rosinenbrötchen, wie es war und wie es ist und wie es hoffentlich sein wird. Im Mai geht es wieder auf Tournee. Niedecken ist guter Dinge: "Ich bin wieder am Start."
Das Gespräch führte Martin Oehlen.
Herr Niedecken, der Titel des letzten BAP-Albums heißt "Halv su wild". Gilt das auch noch nach Ihrem Schlaganfall?
Niedecken: Genaugenommen - ja! Es ist gottseidank alles gut gegangen. Ich hatte auch gar keine Schmerzen.
Sie sagen: gottseidank. Glauben Sie an Gott?
Niedecken: Ich habe ein so unfassbares Glück gehabt, dass ich feststellen kann: Mein Gottvertrauen wächst.
An jenem November-Tag, an dem Sie den Schlaganfall erlitten, kam zufällig Ihre Frau Tina vorbei, als Sie selbst bemerkten, dass etwas nicht stimmte.
Niedecken: Der Zufall, so heißt das bei Hölderlin, ist nichts anderes als die Verkettung von Notwendigkeiten. Ich saß hier in meinem Arbeitszimmer im Lesesessel und hielt Faulkners "Licht im August" in den Händen. Ein ums andere Mal fing ich das Kapitel 17 neu an, aber bekam nicht mit, was ich da las. Ich stand auf, um auf dem Balkon Luft zu schnappen - da kreuzten sich zufällig unsere Wege. Wäre ich im Sessel sitzen geblieben, hätte meine Frau nicht gesehen, wie furchtbar ich aussah; und wäre sie nicht mit der Wäsche hochgekommen, um die in die Waschmaschine zu legen, auch nicht. Dann wäre das passiert, was nicht passieren durfte.
Der Notarzt war sehr schnell bei Ihnen.
Niedecken: Ich habe zuerst nur gedacht: Was für ein Aufwand! Das ist doch komisch. Als dann aber im Krankenhaus sofort mein Blut verdünnt wurde, wusste ich, dass es ernst ist. Da hätte es schon vorbei sein können. Meine Halsschlagader macht unter dem Ohr, in dem ich sonst einen Ring trage, eine Haarnadelkurve. Dort hatte sich wegen einer Woche starken Hustens eine Wunde gebildet. Das war's.
Und was war mit dem Stress, den Sie vorher hatten? Die Autobiografie, das Album, die Tour, der 60. Geburtstag, das Afrika-Projekt - spielte das keine Rolle?
Niedecken: Es war schon unglaublich viel, was da los war. Vielleicht war ich nicht in der besten körperlichen Verfassung. Aber ich trinke nicht, ich lebe vegetarisch, ich habe einen Sportler-Blutdruck. Vielleicht war der Schlaganfall ein Reminder: Pass auf, du glaubst es noch nicht, aber du bist jetzt 60 - mach mal halblang. Ich weiß auch genau, was im Jubiläumsjahr bei mir zum Stress geführt hat. Das sind die Termine, die zur Tour hinzukommen, bei denen man denkt, man muss sie machen, weil man niemanden vor den Kopf stoßen will. Ich muss lernen, "nein" zu sagen, "das geht jetzt nicht mehr".
Und das können Sie?
Niedecken: Mittlerweile kann ich das. Ich habe ja das Ende gesehen. Das hört sich sehr dramatisch an. Aber als die Ärzte im Krankenhaus den Eingriff vorbereiteten und mich narkotisierten, sah ich meine Frau mit den Töchtern an der Seite stehen. Das letzte, was ich dachte, war: Hoffentlich werde ich noch einmal wach!
Wie war das Aufwachen?
Niedecken: Ich machte die Augen auf - und da standen die drei Damen praktisch genau so wie zuvor. Die sahen sogar recht zuversichtlich aus. Da dachte ich: Toll! Es gibt noch eine Zugabe. Und dann war ich auch die ganze Zeit über von einer unglaublichen Zuversicht. Ich war total sicher, es wird alles wieder genau so wie es war. Ich konnte nicht reden, die Hand war gelähmt, ich war verkabelt bis zum Abwinken - alles egal: Ich war wieder am Start.
Wann haben Sie gemerkt, dass für die Genesung Geduld erforderlich war?
Niedecken: Schon als ich auf der Intensivstation lag. Ich wollte meiner Frau Tina etwas sagen, was mir wichtig war. Nämlich: Gut, dass wir uns genau in dem Schnittpunkt der Wohnung gesehen haben, als ich den Schlaganfall bekam. Doch das einzige, was ich sagen konnte, war "Amisch". Ich habe lange überlegt, warum ich ausgerechnet das sagen wollte. Eigentlich ist es ganz klar: "Als ich in dem Sessel saß" - das wollte ich wohl sagen. Aber stattdessen immer wieder Amisch, Amisch, Amisch. Das hat ein paar Stunden gedauert.
Darauf konnte sich keiner einen Reim machen?
Niedecken: Nein. Das hat keiner verstanden. Tina war ziemlich verzweifelt. Die wusste ja nicht, was für einen Mann sie wiederbekommt. Und dann, als die Sprache wiederkam, bemerkte ich erst all die Strippen und sagte: Du leeven Jott! Trotzdem dauerte das alles eine Weile. Da gab es schon viele Wortfindungsprobleme. Dann rief der Hans Süper an
(legendärer Karnevalist und Sänger - d.A.)
und alle im Zimmer staunten. Denn mit dem Hans sprach ich fließend Kölsch. Das Kölsche ist bei mir offenbar tiefer eingelagert. Da war überhaupt nichts von weg. Sensationell.
Haben Sie den Eindruck, dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein?
Niedecken: Mit Sicherheit nicht aus eigener Kraft. In der Neurologie traf ich das richtige Team, das alles richtig machte.
Die Autobiografie "Für ne Moment", die vergangenes Jahr erschienen ist, muss jetzt um ein erhebliches Kapitel erweitert werden?
Niedecken: Eine Zugabe hatten wir schon vorher geplant. Das Buch ist so gut angekommen und es gibt so viele Geschichten, die da nicht drinstehen. Auch machen mir die Lesungen sehr viel Spaß. Wir wären schön bescheuert, wenn wir da keine Fortsetzung machen würden. Die könnte im nächsten Jahr erscheinen.
Ihre Songs sind oft eine Art Tagebuch. Gibt es einen Text zur überstandenen Krise?
Niedecken: Nein, das ist verfrüht. Diese Erfahrung muss erst einmal sacken.
Gibt es überhaupt schon neues Material?
Niedecken: Nein. Ich verspüre im Moment gar keinen Drang dazu. Denn die Tour ist ja nicht vorbei - sie ist im vergangenen Jahr verschoben worden und wird jetzt nachgeholt. Das Album ist immer noch nicht aus dem Laufstall raus. Du wirst ja auch nicht schwanger, wenn das eine Kind noch nicht läuft. Das kütt schon noch. Auch da bin ich zuversichtlich.
In der Autobiografie heißt es, dass Ihr Vater nie habe loslassen können. Können Sie das jetzt?
Niedecken: Meine Familie weiß: Ich mache keine zwei Sachen auf einmal. Ich mache nur noch eine Sache, auf die ich mich konzentriere.
War das früher anders?
Niedecken: Da bin ich auf allen Hochzeiten unterwegs gewesen. Damit ist Schluss. Natürlich verzettele ich mich ganz gerne, weil ich mich für alles mögliche interessiere. Aber ich muss mich da selber disziplinieren.
Die Welt hat sich während Ihrer Auszeit weiter gedreht. War das Verlangen groß, sich da oder dort einmal einzumischen?
Niedecken: Mit dem Einmischen ist das so eine Sache. Seit ein paar Jahren konzentriere ich mich auf das "Project Rebound", das sich um Jungen und Mädchen in Uganda und im Ostkongo kümmert, um Kindersoldaten und minderjährige Prostituierte. Dafür mache ich alles. Da geht es um Kinder im Alter meiner Töchter. Wenn mich das nicht mehr berührte, könnte ich mit allem aufhören. Aber gerade, weil das so wichtig ist, muss ich aufpassen, dass ich mich nicht verzettele.
Das Thema Kindersoldaten steht gerade im Zentrum der umstrittenen Internet-Kampagne "Kony 2012". Ziel der Kampagne ist die Festnahme des ugandischen Rebellenführers Joseph Kony bis zum Jahresende. Dazu wurde ein Film über Kindersoldaten ins Netz gestellt.
Niedecken: Ja, aber das ist alles merkwürdig, der Stil und der Inhalt. Wer sich jetzt für Kindersoldaten einsetzen will, der muss in den Ostkongo gehen. Das Video zielt auf Uganda und hinkt der Zeit hinterher. Die Nachtpendler, die da gezeigt werden, die gibt es gar nicht mehr.
Was muss denn im Ostkongo besser werden?
Niedecken: Ich bin nicht der Rock'n'Roll-Sänger, der die Welt retten will. Aber ich weiß: Die Korruption muss bekämpft und die Zivilgesellschaft muss gestärkt werden. Da will ich mithelfen. Wir versuchen, den Kids, die im Grunde keine Chance haben, die Gelegenheit zu geben, ein Handwerk zu erlernen. Es gibt dort relativ viele Kinder, die noch nicht lesen und schreiben können, aber schon haben töten müssen.
Wobei der ganze Breitengrad ein heikles Territorium ist. Warum die Konzentration auf Uganda und Kongo?
Niedecken: Ich hätte nichts dagegen, gäbe es mehr Geld, um das Projekt noch auszudehnen. Aber zunächst einmal ist es mir lieb, das ordentlich zu machen, was wir uns vorgenommen haben. Auch hier gilt das Motto: Nur nicht verzetteln. Das steht irgendwie über allem. Dass Horst Köhler nicht mehr Bundespräsident ist, das am Rande, ist gar nicht gut für Afrika. Der hat sich da sehr stark engagiert.
Jetzt ist auch schon sein Nachfolger abgetreten. Wie haben Sie die Debatte um die Moral im politischen Spitzenamt empfunden?
Niedecken: Da steckte am Ende so viel Scheinheiligkeit und Selbstgerechtigkeit drin, dass ich schon gar nicht mehr hingucken konnte. Aber natürlich sind Fehler gemacht worden. Ich sage nur eins: Wie kann man überhaupt Handy-Nummern austauschen mit dem "Bild"-Chefredakteur Kai Dieckmann? Christian Wulff hat den für einen Freund gehalten - aber das kann doch nicht dein Freund sein! Soviel Menschenkenntnis muss man doch haben.
Die Überreichung des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse an Sie steht noch aus. Das wird vermutlich der neue Bundespräsident tun.
Niedecken: Ich freue mich, dass Joachim Gauck dieses Amt übernommen hat. Und seine erste Rede nach der Wahl in der Bundesversammlung hat mir gut gefallen: Den Satz, dass man nie eine Wahl auslassen sollte, spricht mir aus dem Herzen. Immer wieder ärgere ich mich über die geringe Wahlbeteiligung. Ich bin in Ländern gewesen, wo die Leute dafür sterben, dass sie endlich wählen dürfen - früher in Lateinamerika, heute in Afrika. Faire Wahlen, freie Wahlen - das ist auch etwas, wovon viele in Russland träumen.
Wird sich die Bundesrepublik dadurch verändern, dass jetzt zwei ostdeutsche Protestanten an der Spitze stehen?
Niedecken: Da schlägt das Pendel zurück von der Bonner Republik. Ich glaube schon, dass das Auswirkungen haben wird - die beiden wirken sehr abgeklärt. Nehmen wir nur Angela Merkel! Wer hätte ihr diese Kanzlerschaft zugetraut? Ich nicht, das muss ich ehrlich sagen. Ich werde sie nicht wählen, aber trotzdem: Chapeau! Sie wird ja laut Umfragen immer beliebter.
Was die Beliebtheit angeht, stehen Sie momentan auch nicht schlecht da. Soeben gab es für Sie den "Echo" für das Lebenswerk. Wie fühlt sich das an?
Niedecken: Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Preis jemals erhalten könnte. Nicht in Zeiten des Format-Radios, wo wir mit unserer Musik kaum noch vorkommen. Und letzte Mohikaner werden in der Regel nicht ausgezeichnet. So einer bin ich. Einer der letzten Mohikaner.
Der geht mit BAP im Mai wieder auf Tournee. Wie haben Sie die Band in den vergangenen Monaten erlebt?
Niedecken: Das war eine wunderbare Erfahrung. Die Band ist noch stärker zusammengewachsen. Die waren alle so was von fürsorglich! Die Band wollte unbedingt, dass wir in meiner Wohnung die ersten Unplugged-Proben machen, bevor wir ins Studio gehen, um die Tour einzuspielen.
Waren Sie nervös vor der ersten Probe?
Niedecken: Überhaupt nicht.
Und was wird nach der Tournee kommen? Gibt es noch Ziele, gerade nach einer solchen Zäsur wie Ihrem Schlaganfall?
Niedecken: Natürlich gibt es manches, was ich gerne erreichen möchte, aber nichts, wovon ich sagen würde, mein Leben wäre verfehlt, würde ich es nicht mehr erreichen. Natürlich wäre es schön, könnte man das "Project Rebound" auf alle Krisengebiete Afrikas ausdehnen. Ich möchte auch endlich einmal nach Australien und Ozeanien reisen, wo ich noch nie war, und ich möchte alleine mit meiner Frau den schöneren Teil der "Route 66" in den USA abfahren. Ich würde auch gerne einmal eine richtige Unplugged-Tour machen. Aber bei alledem bin ich sehr entspannt.
Vor einem knappen Jahr haben Sie Ihren 60. Geburtstag groß gefeiert. Wie wird es in wenigen Tagen beim 61. Geburtstag sein?
Niedecken: Anders. Da sitze ich in Marrakesch und schaue mit meinen drei Damen über die Dächer der Stadt.