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Wolf Jobst Siedler Wolf Jobst Siedler: Wanderungen zwischen Oder und Nirgendwo

Von CHRISTIAN EGER 16.01.2011, 17:55

Halle (Saale)/MZ. - "Im Alter wird man alt und sonst nichts", behauptet Wolf Jobst Siedler in dem 2006 veröffentlichten Aufsatz "Bei Besichtigung meiner schriftlichen Hinterlassenschaft". Und fragt: "Von wem, um Himmels willen, stammt denn die Zuversicht, daß man im Alter weise wird? Meine Erfahrung läuft auf anderes hinaus. Die eigenen Freunde, die also derselben Generation angehören, sind doch alles mögliche, nur nicht weise. Der eine ist mürrisch, der andere melancholisch, und der dritte hat sich aus der Wirklichkeit zurückgezogen. Ist das Weisheit?"

Selbstverständlich nicht. Es ist etwas anderes und wahrscheinlich wichtigeres - nämlich: Distanz. Was auch immer Weisheit sein mag: Distanz, die nichts anderes als geistige Unabhängigkeit meint, ist eine ihrer Bedingungen. Diese Distanz hat Wolf Jobst Siedler als Verleger und Schriftsteller immer bewiesen. Sogar noch in solchen Positionen, die der vormalige Feuilleton-Chef des Berliner "Tagesspiegels" tatsächlich in Abhängigkeitsverhältnissen ausfüllte, jeweils berufen von Axel Springer: von 1963 an als Chef des Propyläen-Verlages und von 1967 bis 1979 als Leiter der Ullstein-Gruppe. 1980 schließlich gründete Siedler sein eigenes Unternehmen: den Siedlerverlag, heute geführt von Bertelsmann.

Mit den Verlagen Propyläen und Siedler wird der Name des 1926 in Berlin geborenen Diplomatensohnes immer verbunden sein, mit Bucherfolgen also wie Joachim Fests "Hitler", Ernst Engelbergs "Bismarck" oder Albert Speers "Erinnerungen". Wobei im Blick auf den NS-Architekten und Rüstungsminister Speer, der nach der heute bekannten Aktenlage 1945 als Kriegsverbrecher hingerichtet worden wäre, zu sagen ist: Siedler selbst hegte - im Gegensatz etwa zu Joachim Fest - nie Illusionen über die behauptete sittliche Integrität dieses Politikers; der Verleger genoss vielmehr den Buchwelterfolg. Mit den Nazis hatte Siedler, der gemeinsam mit Ernst Jüngers ältestem Sohn 1944 wegen regimekritischer Äußerungen verhaftet worden war, nie etwas am Hut. Im Gegenteil: Den Nationalsozialisten attestierte er die Abschaffung des Bürgertums mitsamt seiner geistigen und gesellschaftlichen Kultur.

Um die Erinnerung an letztere hat sich Siedler als Publizist verdient gemacht wie kein Zweiter. Und das auf eine stets gewitzte und unaufdringlich gelehrte, so streitlustige wie trockene Art, die bis heute nicht ihresgleichen, aber viele - auch jüngere! - Verehrer hat.

Denn nie war Siedler bei all seinen Vergangenheitsanrufungen ein Gestriger - und seine Bücher sind anregend und leidenschaftlich bis heute. Die großen architektur- und kulturkritischen Erfolge "Die gemordete Stadt" (1964) und "Abschied von Preußen" (1991), die essayistischen Erkundungen "Auf der Pfaueninsel" (1986) und "Wanderungen zwischen Oder und Nirgendwo" (1988): In Stil, Ton und Gehalt einzigartige Bücher, die den Vergleich mit Fontane nicht scheuen müssen. Klassiker längst, aus denen man gern fortgesetzt zitieren würde: So souverän wie suggestiv machen sie das Ineinander von Kultur und Natur, von Kunst und Geschichte sinnfällig.

Denn "die Natur, die jenseits der Geschichte steht, ist selber historisch", schreibt Siedler in seinem Aufsatz "Das Land zwischen Elbe und Oder ist alles, was von Preußen geblieben ist" (1989). "Der Baumbestand schon signalisierte einst die Besitzverhältnisse. Nur die Gutsherrschaft ließ ja die alten Bäume stehen; kein Bauer hätte stehen lassen, was mehrere hundert Mark pro Klafter brachte. Fuhr man über Land, so gaben schon von fern hochragende Baumgruppen zu erkennen, daß dort ein Guthaus war, meist mit einer dazugehörigen Kirche." Prosa, die belehrt, ohne zu schulmeistern. Die Landschaften öffnet. Historische Farben und Formen sichtbar macht. Auch wenn sich der in Berlin lebende Autor nach einem Schlaganfall ins Private zurückgezogen hat: Seine Bücher reisen durchs nordostdeutsche Kulturland. Am Montag wird Wolf Jobst Siedler 85 Jahre alt.