Wolf Biermann Wolf Biermann: Zärtlich heult die Drahtharfe
Halle/MZ. - Wolf Biermann fährt von Ostberlin nach Köln, dort soll er singen. Es ist November, neblige Nässe drückt den Braunkohlendreck von den Schloten in die Straßen der DDR, kein Gedanke an Deutschland in Deutschland, zerrissen liegt es da, Ost und West, und nichts will heilen unter dem schütteren Schorf, der die gemeinsame Geschichte deckt. In Ostberlin, der Kapitale des Sozialismus auf deutschen Boden, hat Biermann seit mehr als elf Jahren wie ein Schatten gelebt, so lange gilt sein Auftrittsverbot schon. Biermann, der Kommunist, soll gefälligst die Schnauze halten im Arbeiterparadies. Biermann, dessen Vater ein jüdischer Werftarbeiter aus Hamburg war, Widerständler gegen die Nazis, ermordet im Konzentrationslager Auschwitz.
Biermann war 1953 in die DDR gekommen und bekannt mit Margot Honecker. Trotzdem ließen sie ihn nicht mehr singen. Überhaupt hat er viele Freunde im Osten gehabt, auch noch, nachdem er schon verboten worden war - nur dass die etablierten unter ihnen mit ihrer Zuneigung nicht hausieren gingen.
Und denen, die sich zu ihm bekannten, ging es selber an den Kragen: Der Wissenschaftler Robert Havemann stand unter Hausarrest, der junge Dichter Jürgen Fuchs und seine Jenaer Freunde flogen von der Universität, Gerulf Pannach, dem Leipziger Liederdichter und Kommunarden der Renft-Combo, stellte die Stasi nach.
Der "deutsche Herbst"
Und der Rest des Volkes im Arbeiter- und Bauernstaat? Und die Wirtschaftswunderkinder und ihre Eltern im Westen? Was hatten sie alle mit diesem Biermann zu schaffen und er mit ihnen? Einiges offenbar, weil die Zeiten politischer waren als sie schienen. Die westdeutsche Demokratie stand ein Jahr vor dem Crashtest der "Stadtguerilla", der dann als "deutscher Herbst" eine pathetische Chiffre erhalten hat, die nach Karl May und Bayreuther Festspielen klingt: Die Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" durch RAF-Terroristen nach Mogadischu in Somalia, die Befreiung der Geiseln durch deutsche Elite-Polizisten, die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer, der Tod von Andreas Baader und Gudrun Ensslin im Zuchthaus Stammheim...
Schwer vorstellbar, dass die westdeutsche Republik ein knappes Jahr zuvor, zur Zeit von Biermanns Kölner Konzert, ein still ruhender See gewesen sein sollte, an dessen Ufern nichts als Bausparkassen mit ihren glücklichen Kunden siedelten. Unter den Tausenden im Saal waren viele Gewerkschafter und Sozialdemokraten, aber auch Linke aller Couleur: Anarchisten, Spartakisten, Kommunisten, Trotzkisten... Sie alle waren, aus durchaus widerstreitenden Motiven, neugierig auf diesen Mann, der über den "Gouverneur von Halle", einen der mächtigsten SED-Chefs, "Sindermann, du blinder Mann" dichtete und "Meine Genossen - die Götter, die Schweine" sang.
Das war schon ein Hammer, auch im narrenfreien Westen. Und im Osten sowieso. Da war die erste Generation der Nachkriegsgeborenen inzwischen im realen Sozialismus gelandet. Aber Fahnen schwenkten sie deshalb längst nicht alle, und manche, die das im Blauhemd der FDJ noch getan hatten, waren nun nicht mehr so scharf auf schale Sprüche von Heldentum und den Duft nach Volksarmee und Männerschweiß. Und im Sommer hatte sich in Zeitz der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz verbrannt.
Wer heute etwas über die DDR erfahren will, dem werden die schönen, dramatisch gefärbten Bilder aus Florian Henckell von Donnersmarcks "Das Leben der Anderen" ans Herz gelegt. Sie erzählen so viel vom Osten wie der Film "Doktor Schiwago" über das Russland zu Zeiten der Oktoberrevolution.
"Feindseliges Auftreten"
Am 16. November hatten die DDR-Behörden Biermann ausgebürgert, als "Antwort auf sein feindseliges Auftreten", wie das "Neue Deutschland einen Tag später zufrieden schrieb. Prominente Autoren wie Christa Wolf und Günter Kunert und viele Namenlose im ganzen Land protestierten gegen die Ausbürgerung. Andere, Helmut Sakowski, Erik Neutsch und auch Anna Seghers darunter, bekannten sich zur SED. Am 19. November würde die ARD die Aufzeichnung des Kölner Konzertes senden - die Nachricht machte die Runde im Lande Erich Honeckers. In Betrieben, Läden, Hörsälen grummelte es. Man verabredete sich oder kaufte auf Kredit seinen ersten Fernseher: "Debüt" hieß das Gerät, zeigte schwarzweiße Bilder und war weißgott nicht billig.
Alles, was diesem Konzert folgte, ist tausendfach besprochen, interpretiert und auch verklärt worden. Tatsächlich gab es Verfolgung und Einschüchterung von Menschen, die anders dachten. "Es ist doch interessant, wer da plötzlich aus seinem Rattenloch kriecht", sinnierte der Berliner SED-Fürst Konrad Naumann. Da konnte man schon Angst bekommen. So war es gemeint. Und viele packten die Koffer. Die anderen, sie "sterben still und leise", sang Bettina Wegner ihren weggegangenen Freunden hinterher. Dann ging sie selber fort.
Unvergesslich aber bleibt Biermanns Auftritt in Köln. Der kleine, wortmächtige Mann singt und redet sich die wunde Seele aus dem Leib. Er hat Wut und singt voll Zärtlichkeit, er greift an und verteidigt doch die ungeliebten Genossen daheim - damit sie ihn wieder hineinlassen in ihren Staat, an dessen scharf bewachter Grenze Biermann seinen Bruder im Geiste, den toten Dichter François Villon, auf dem Stacheldraht Harfe spielen lässt.
Allein, sie schmeißen ihn raus. Sie hatten es lange vor, spätestens nach dem ersten Ost-Auftritt, den sie ihm nach mehr als zehn Jahren im September in einer Prenzlauer Kirche erlaubt hatten. Was sie nicht bedachten, es ging ihnen bei all ihrer gepriesenen Dialektik durch: Mit Biermanns Ausbürgerung hat der Anfang vom Ende der DDR und der deutschen Teilung begonnen. Er hat ihn herbei gesungen, das wird ihm keiner vergessen. Nicht Freund noch Feind.