Willy Brandt zum 100. Geburtstag Willy Brandt zum 100. Geburtstag: Die List der Schnecken

berlin/MZ - Der Willy, sagt der Mann, der zehn Jahre später einer seiner Nachfolger an der Spitze der SPD wird, „der Willy, der darf das“.
SPD-Parteitag 1989 in Berlin. Gerhard Schröder inmitten einer Traube von Journalisten. Hier denkt, hier fühlt man links. Hier ist Oskar Lafontaine der Star mit seinen Bedenken gegen die schnelle Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Blankes Entsetzen, dass Willy Brandt dem nationalen Lied dieser Tage den Refrain gegeben hat: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.“ Die Menschen in Ostdeutschland jubeln ihm zu.
Wo ist der Willy Brandt geblieben, der die Demonstrationen gegen das atomare Wettrüsten auf den Begriff gebracht hat, die das zurückliegende Jahrzehnt der alten Bundesrepublik geprägt haben? „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ 76 Jahre ist der Berliner aus Lübeck mit Wohnsitz am Rhein fast auf den Tag genau alt. Aber wer ist, wer war dieser Willy Brandt? Die Frage harrt auch heute - 100 Jahre nach seiner Geburt - einer eindeutigen Antwort.
Köpfe und Herzen anrühren
Die Gegensätze in seiner Person auszuhalten, fällt umso schwerer, als Brandt über seinen Tod 1992 hinaus immer wieder zum Idol verklärt wird: erst als heldenhafter Bürgermeister der „Frontstadt“ Berlin, dann als Architekt der Entspannungspolitik. Als Bundeskanzler der Reformen. Als Prophet der Friedensbewegung. Als alter weiser Mann schließlich, der alle Gegensätze versöhnt - einer, der nicht nur die Köpfe, sondern die Herzen der Menschen anrührt. Aber auch einer, der ihnen umso näher scheint, je weiter sie von ihm entfernt sind.
Das Bild von der Schnecke, das der Schriftsteller Günter Grass auf die Langsamkeit des Fortschritts gemünzt hat, nimmt Brandts Sohn Lars in seinem Buch „Andenken“ für die Persönlichkeit seines Vater auf, der für so viele Menschen den Fortschritt verkörperte. Es sei „die List der Schnecken, sie brauchen nie aus dem Haus zu gehen und kommen trotzdem gut herum“, schreibt er. Und dennoch: „Soviel er sich auf dem Erdball herumtrieb, quälte er sich in der Gesellschaft anderer Menschen – anderer Individuen.“
Eines der Mittel, den Widersprüchen des Willy Brandt auszuweichen, ist Gerhard Schröders als Hochachtung getarnte Herablassung. Einer, der in jungen Jahren von den Nazis aus seiner Heimat vertrieben wurde, lautet sein kurzer Satz im Klartext, der darf auf seine alten Tage sentimental werden, wenn wiedervereint wird, was man früher Vaterland nannte. Aber wir Jüngeren von heute machen eine nüchterne Politik - und fahren den Karren vor die Wand, wie das Desaster der SPD bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen 1990 beweist. Der alte Mann dagegen ist auf der Höhe der neuen Zeit. Wieder einmal.
Denn das ist Willy Brandt auch, als er nach seiner Rückkehr aus dem skandinavischen Exil beginnt, in Berlin Politik zu machen. Der schreibende Journalist erweist sich schnell als brillanter Redner, aber auch als Machtmensch, „der Mittel und Wege kannte, sich durchzusetzen“ (Lars Brandt). 1957 wird der SPD-Bundestagsabgeordnete zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Schon ein Jahr später, immer noch mitten im Kalten Krieg, erkennt er, dass die deutsche Außenpolitik „auf einem Bein“ steht. Nun sei es die Aufgabe, in enger Absprache mit den Partnern im Westen, „auch das andere Bein - und das heißt Ostpolitik - herunterzusetzen.“ In der Halbstadt Westberlin, umgeben von der „Ostzone“ ist das besonders schwierig - und nötig. 1961 riegeln Sowjetunion und DDR sie durch eine Mauer ab. Unterhalb der offiziellen deutschen Außenpolitik beginnt der Bürgermeister eine „Politik der kleinen Schritte“. Gemeinsam mit seinem Vertrauten Egon Bahr entwickelt Brandt das Konzept des „Wandels durch Annäherung“. Nicht nur Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß werfen ihm Verrat und Ausverkauf deutscher Interessen vor. Erst Helmut Kohl versöhnt CDU und CSU mit Brandts Entspannungspolitik.
Brandt, dem später so oft Zögerlichkeit vorgeworfen wird, kehrt bei ihrer Durchsetzung den Mann der Tat heraus. So scheut der vielfach verleumdete Emigrant sich nicht, als Vizekanzler in die Regierung von Kurt Georg Kiesinger einzutreten, der in Adolf Hitlers Außenministerium gearbeitet hat. Als Herbert Wehner und andere Machtmenschen seiner Partei beginnen, sich als Juniorpartner in der Großen Koalition häuslich einzurichten, bereitet er mit FDP-Chef Walter Scheel den Absprung vor. 1969 wird er als erster Sozialdemokrat Bundeskanzler.
„Wir wollen mehr Demokratie wagen“, verspricht Brandt in seiner ersten Regierungserklärung. Wieder so ein Satz, der haften bleibt – und eine Generation mit der herrschenden Politik (wenigstens zum Teil) versöhnt, die 1968 gegen das „Establishment“ auf die Straßen gegangen ist. Doch der Machtmensch in ihm scheut wenige Jahre später nicht den Versuch, durch einen „Radikalen-Erlass“ orthodoxe Kommunisten aus dem Staatsdienst fernzuhalten (was er im Alter wieder bereut).
1971 erhält Brandt für seine daheim umstrittene Versöhnungspolitik mit dem Osten den Friedensnobelpreis. Aber tiefer als seine Worte oder die Verträge gräbt sich eine stumme Geste aus seiner Regierungszeit ins kollektive Gedächtnis. Bei seinem Besuch in Warschau fällt er vor dem Denkmal für die Ermordeten des jüdischen Ghettos auf die Knie. „Ich hatte das Empfinden, ein Neigen des Kopfes genügt nicht“, sagt er hinterher Egon Bahr. Und dann 1974. Jenes schreckliche Jahr, das ihn mit dem Gedanken an Selbstmord spielen lässt. „Wäre auch kein Verlust, wenn man da runterfiele“, hört der Journalist Hermann Schreiber ihn murmeln, als er auf Helgoland zentimeternah an der Steilküste steht. Fünf Tage später tritt er von seinem Amt zurück. Günter Guillaume, ein Mitarbeiter im Kanzleramt, ist als Spion der DDR enttarnt worden. Staatsgeheimnisse wusste er nicht, aber angeblich (zu) viel über Brandts außereheliches Liebesleben. Der ist angewidert und entnervt. Aber er bleibt SPD-Vorsitzender.
An den Zweifel glauben
„Kneife ich also die Augen zusammen, um Vaters Umrisse zu erfassen, und mein Material zu finden: Was sehe ich?“, fragt Lars Brandt in seinem Andenkenbuch und antwortet: „Einzelheiten, die auseinanderfallen und wenig zusammen zu passen scheinen, wiewohl sie sich doch zu einem Ganzen fügen.“ Willy Brandt eben – einer der großen Deutschen, der sich allen Vereinnahmungen immer wieder entzogen hat, getreu seinem Satz: „Es gibt mehrere Wahrheiten, nicht nur die eine alles andere ausschließende Wahrheit. Deshalb glaube ich an die Vielfalt und also an den Zweifel.“


