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Wilhelm Bartsch Wilhelm Bartsch: Schwing dich auf den Sattel

Von christian eger 04.05.2012, 16:31

Halle (Saale)/MZ. - Wanderer" ist der Name einer mitteldeutschen Firmenlegende. 1885 in Chemnitz gegründet, Anfang des 20. Jahrhunderts zur Blüte gebracht, 1946 enteignet im Osten. Ein Unternehmen, das vor allem Fahrräder, Motorräder und Autos herstellte. Nach internationalem Vorbild: Denn "Wanderer" ist die deutsche Übertragung des englischen Markennamens "Rover".

Nun kehrt der Klassiker zurück: Nicht als ein Nostalgie-, sondern als ein Poesie-Artikel. "Die alte Marke Wanderer" - so heißt der neue Gedichtband des halleschen Schriftstellers Wilhelm Bartsch. Nach dem kraftvollen Historienroman "Meckels Messerzüge" (2011) und den raumgreifenden "Mitteldeutschen Gedichten" (2010) ein erneuter Fall von poetischer Landnahme des aus dem Oderland stammenden Dichters, der seit 1976 in Halle lebt. Einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker seiner Generation. Und nach wie vor aufs Anregendste unabkömmlich in Mitteldeutschland, wo der Wilhelm-Müller-Literaturpreisträger als Sekretär der Klasse für Literatur und Sprachpflege der Sächsischen Akademie der Künste in Dresden vorsteht, der einzigen ostdeutschen Akademie ihrer Art.

Aufs Anregendste unabkömmlich: Das trifft auch auf diesen bibliophil gestalteten, mit den wie in Zigarettenbilder-Manier eingeklebten Reproduktionen farbiger Moritz-Götze-Zeichnungen ausgestatteten Band zu, den Jens-Fietje Dwars in Jena in seiner "Edition Ornament" herausgegeben hat. Ein Büchlein in der Anmutung der Quarthefte aus dem Wagenbach-Verlag. Aufs Anregendste unabkömmlich aber vor allem, weil sich Bartsch in seinem neuen Lyrikband keinerlei Zügel anlegt. Querfeldein zieht der 61-Jährige in zehn Abteilungen durch seine Landschaften: von der Uckermark aus an die Ostseeküste, durch das Wendland, Irland, Italien, Amerika, das äußere und innere Deutschland. Jahresringe einer Dichterbiografie, die man gerne sieht. Denn in den besten seiner neuen Gedichte zeigt sich Bartsch so frisch und frei wie in seinem bis heute ganz unverbrauchten Debüt "Übungen im Joch" von 1986. Vergnügen und Freiheit: Das teilt sich mit.

Und das von Anfang an. In dem titelgebenden Auftaktgedicht, das anhebt: "Mein Großvater schnallte das Kissen auf den Gepäckträger / des

Wanderer

-Damenfahrrades, er sagte: Nun schwing dich..." Nämlich: hintendrauf. Von wo aus das Kind in die Welt schaut, das vom Großvater nicht Wilhelm, sondern Wilfried gerufen wird. "Heut zeig ich dir Wasser, Wilfried! so sprach er / zum Beispiel, das fließt von unten nach oben..." Und so fort und hin über Land: "Vor mir steht oft wie ein Knacken des Rücktritts / die Kindheit..." Als der Knabe in Schulterhöhe des Fahrradsattels festsaß, nach dessen Stahlfedern er griff wie der uckermärkische Melker nach dem Euter: "Und wie stahlblaue Milch scharf am Eimerrand klingelt, / so molk ich die Welt, von einem Ort zum andern, / und Großvater butterte zu mit kurbelnden Füßen." Die Welt, abgeschöpft aus dem Rahm des von Kindheit an Gesehenen, auf das der Dichter noch einmal blickt, Wilhelm auf Wilfried sozusagen.

Großartig ist Bartsch, wenn er nah und seelenruhig an der Landschaft schreibt und an der eigenen sinnfälligen Erfahrung. So wenn er in "Auf kleiner Bahn" durch die nun stillgelegte Landschaft seiner Kindheit streift, durch die kein Zug mehr rollt: "Wer machte Dampf einst lauter Ostseewölkchen / für den Moment? Die Jährlein wie zerblasen / das kleine Ruckeln Pfiffeln Poltern - aus / Schirm' mit der Hand dir die geschlossnen Augen".

Die alte Marke Wanderer: Das meint die liegen gebliebenen Fortschrittsgerätschaften der Menschheit genauso wie die auf ihrem jeweils eigenen Weg gebliebenen Landsleute, das ist der Dichter genauso wie sein Leser, den Bartsch in der Nachbemerkung "Meine Poetologie" als "nach-lesenden Dichter" begreift, als einen, der bei der Lektüre das Gedicht fortschreibt.

Wimmelbildlich vergnügt "Im Café ,Wendel' Lüchow": "Es regnet. Regnet lauter späte Mädchen..." Kunstvoll verspielt in "Sie kommen, sie gehen": "Mongolen zum Beispiel / Der Fächer Amsterdam / rauscht auf und fächelt..." Deutlich in seinen "Wittenbergischen Gedichten": "Bis zum Lutherherzinfarkt / ist vermarktet auch mein Markt." Was tun? Bartsch empfiehlt Luther, auch ein alter Wanderer: ",Froh sein, stark in Gott und frei', / Bruder Martin wär' dabei."