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VerschwörungstheorienWie die postfaktische Zeit Verschwörungstheorien befördert

Halle (Saale) - Was wahr ist, muss nicht wahr bleiben, alte Lügen verhelfen dem postfaktischen Zeitalter zur Legitimität: ein Humus für Verschwörungstheorien.

Von Andreas Montag 30.12.2016, 22:42

Ach, nun auch noch ein Besinnungsstück zum Jahresausklang! Wo wir uns doch heute alle in den Armen liegen wollen, zur Mitternacht, sofern nicht einer schon zu betrunken dafür ist, und gute Wünsche in den raketenvernebelten Himmel schicken: Dass nur alles, alles gut werden möge!

Arbeit soll es geben und gutes Geld, keine Krankheit und keinen Terror, ein bisschen Frieden auch für die Anderen, so lange er für uns nur reicht. Und einen Krümel Brot für die Welt. Die Politik soll endlich alles richten und es jedem recht machen. Und immer die Wahrheit sagen, obwohl doch viele insgeheim glauben (oder schon offen sagen), dass sowieso alles Lüge ist. So viel Verwirrung, wohin man sieht.

Rio Reiser, der wunderbare Songpoet, den vielleicht weniger Leute lieben würden, wenn ihnen bewusst wäre, dass der Mann seinem Wesen nach Anarchist gewesen ist, Rio hat es früh gewusst und liebevoll ironisch durch den Kakao gezogen.

„Alles Lüge“, sang er: „Es ist wahr, es ist wahr, dass die Kühe das Gras nicht rauchen, sondern fressen“, heißt es da, und: „Es ist wahr, es ist wahr, dass der Papst zwar die Pille nicht nimmt, aber trotzdem keine Kinder kriegt. Das ist wahr, das ist wahr. Aber sonst: Alles Lüge, alles Lüge!“

Die Lüge in der Politik: eine folgenreiche Geschichte

Die Lüge hat eine große, folgenreiche und finstere Geschichte. Der Zweite Weltkrieg hat mit der deutschen Lüge begonnen, die Polen hätten den Sender Gleiwitz überfallen, weswegen nun „zurückgeschossen“ würde.

Seit der Befreiung vom Nationalsozialismus sind Menschen aus niederträchtigsten Gründen dabei, andere glauben zu machen, das Menschheitsverbrechen des Holocaust sei eine Erfindung der Juden und reden von der „Auschwitz-Lüge“.

Und wie war es mit Walter Ulbricht? Der SED-Chef hat noch Wochen, bevor der längst bestellte Stacheldraht am 13. August 1961 in Berlin von den „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ ausgerollt wurde, kackfrech behauptet, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu bauen. Was war von der Glaubwürdigkeit der feuchten „Bruderküsse“ zu halten, die Leonid Breschnew und Erich Honecker tauschten?

Diese alten Lügen sind es, die uns heute auf die Füße fallen. Das klingt verrückt, dürfte aber dennoch eine plausible Erklärung für den massiven, ja inflationären Vertrauensverlust sein, den die etablierten Parteien in Teilen der Bevölkerung erlitten haben.

Die Lügen der Vergangenheit können eine plausible Erklärung für die starke AfD sein

Nun reiben sich Politiker verwundert die Augen und hoppeln wie Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer von der CSU, Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) oder der Vizekanzler und Sozialdemokrat Sigmar Gabriel hinter der AfD her wie der hechelnde Hase in seiner Furche vom Igel-Vater zur Igel-Mutti hin- und zurückjagt.

Ach, die AfD, dieses Phänomen, das scheinbar aus dem Nichts kam wie die Außerirdischen in einem Katastrophenschinken vom Roland Emmerich, bringt den bundesdeutschen Laden ganz ordentlich durcheinander - und der Trupp hinter Frauke Petry und Genossen sieht maliziös lächelnd dabei zu, wie man den Hühnerhaufen der „Altparteien“ vor sich hertreiben kann.

Kein schönes Bild, dass die Demokratie dieser Tage abgibt. Und ganz ohne Not, wie manche meinen. Dies aber ist falsch. Die Not ist da, schon lange. Eine Not, die hinter all der wohlständigen Sattheit nicht bemerkt - oder für einen eher verzeihlichen Rülpser der Volksseele gehalten worden ist.

Auch der Selbstbetrug ist eine Form der Lüge, sie wird nicht nur in langjährigen Paarbeziehungen praktiziert, sondern auch in gesellschaftlichen Verbänden. Und während Neid und Frust in vielen dumpf schwelten wie giftige Blähungen, haben die Eliten des Landes fahnenschwenkend Siege gefeiert.

Das kennt der gelernte Ossi aus Zeiten des rumreichen Sozialismus: Alles Lüge, wie gesagt. Uns, so hieß und heißt es, haben sie immer beschissen. Aber nun glauben wir gar nichts mehr!

Eines doch: Die neuen Lügen, die auf dem Humus der verfaulten, alten Unwahrheiten gedeihen wie frisches Gemüse. Das ist paradox, aber man muss es endlich einmal zur Kenntnis nehmen.

Unlängst, nachdem auf dem Berliner Breitscheidplatz ein Attentäter tunesischer Herkunft ein Dutzend Unschuldiger umgebracht und viele Menschen verletzt hatte, war für viele das Maß endgültig voll.

Die jungen Männer, die den Obdachlosen an einem U-Bahnhof in Brand setzen wollten, kamen dann noch hinzu: Verbrecher, dieser Migranten, wohin man sieht! Und niemand will mehr mehr etwas von Gewalttaten wissen, die von Deutschen verübt wurden und werden, oftmals von Neonazis.

Eine Straftat bleibt eine Straftat

Das eine kann man nicht gegen das andere aufrechnen, eine Straftat bleibt eine Straftat - egal, von wem sie verübt worden ist und welcher Nationalität der Täter angehört.

Oder will jemand ernstlich behaupten, auch das Verbrechen sei eine deutsche Angelegenheit, in die sich Ausländer gefälligst nicht einzumischen hätten? So absurd wird doch niemand denken?

Vielleicht doch. Nach der Berliner Terrorattacke vertraute mir ein Mann im Supermarkt seine Verschwörungstheorie an. Er wisse, dass hinter allem, angefangen von den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA, die Freimaurer stecken. Dieser verschwiegene, weltweit vernetzte Bund von Menschen, die doch aber auf Humanismus und Freiheit geschworen haben, soll der Arm des Bösen sein?

Finstere Mächte müssen jedenfalls am Werke sein, die auch Oma Ernas Reihenhaus noch pulverisieren werden. So kommt das, wenn es in säkularen Zeiten nicht nur keinen Gott, sondern eben auch keinen Teufel mehr gibt. Dann muss man ihn erfinden.

Postfaktisch soll unser Zeitalter sein. Das klingt harmlos, heißt aber nichts anderes als: Was wahr ist, muss nicht wahr bleiben. Am Ende glaube ich dem größten Lügner, wenn er mir nur das Heil verspricht.

Aber beim Heil für einen gewissen Hitler waren wir schon einmal. Und führte der Weg die Deutschen noch einmal dorthin, wäre es mit ihnen endgültig vorbei. Und zwar ganz unabhängig davon, wie viele Lügner noch unterwegs sind in aller Herren Länder.

Wir müssen uns um unser Land kümmern. Das sagen die Populisten übrigens auch. Nur lohnt es sich zu fragen, welches Land sie damit meinen. (mz)