Welttag des Buches Welttag des Buches: Deutsche können von Finnen nicht nur lesen lernen
Halle/MZ. - Das Leseverhalten der Deutschen verändert sich. "Immer mehr Menschen passen ihr Lektüreverhalten an das Informations-Überangebot der Medien an", sagte der Mainzer Leseforscher Bodo Franzmann der MZ aus Anlass des Welttages des Buches am Freitag. Neben der kontinuierlichen Lektüre an einem Stück, so Franzmann, setze sich das überfliegende Lesen als Häppchen-Kost durch. Die Entwicklung, dass sich die Schere zwischen Viel- und Nichtlesern weiter öffne, bezeichnete der Leseforscher als Besorgnis erregend.
Wenn es dunkel wird in Finnland, und das wird es in der Polarnacht-Phase gleich 51 Tage am Stück, springen nicht einfach nur die Lichter an, sondern die Leselampen. Denn der Finne, wenn er denn nicht zur Elchwurst oder zum Wacholderbier greift, fasst fast alles, was mit Buchstaben bedruckt ist: Bücher, Zeitungen, Flugblätter; das hat der Lesekompetenz-Test im Zuge der Pisa-Studie ermittelt.
Die Finnen also sind die Leseweltmeister: Sie sind heller und schneller als die Deutschen, die im Test der 31 auf Platz 21 landeten. Das kann nur den erstaunen, der nicht zur Kenntnis nimmt, dass Finnland heute mit Elektronik-Firmen wie "F-Secure" und "Nokia" (die einst als Forstbetrieb antraten) technologisch an der Weltspitze steht. Denn es ist zum Beispiel nicht so, dass die Computer-Nutzung dem Lesen Zeit stiehlt - im Gegenteil. Die Studie "Leseverhalten in Deutschland" belegt, dass die Unter-30-jährigen Computernutzer drei Mal so viel Fachliteratur und zwei Mal so viel Belletristik lesen wie jene, die keinen Computer nutzen.
Für den 2002 veröffentlichten Pisa-Test waren fünf Kompetenzstufen erfunden worden; zehn Prozent der deutschen Schüler erreichten nicht einmal die unterste Stufe I ("Risikogruppe") gegenüber sechs Prozent im Europa-Durchschnitt. Hinzu kamen 13 Prozent, deren Fähigkeiten nicht über Stufe I hinausreichen. In der Summe ist bei 23 Prozent der Schüler eine unzureichende Lesekompetenz anzutreffen. Mit neun Prozent sehr guten Lesern liegt Deutschland im Mittelfeld.
Neue Statistiken, die von einem geringen Niveau aus ein Lese-Plus melden, sind erfreulich nur auf den ersten Blick, denn der Anteil der "Kaum- und Wenigleser" beträgt heute knallharte 45 Prozent. Zudem ist es ein Unterschied, ob ein Buch oder in einem Buch gelesen wird. Es gilt: Die Vielleser lesen mehr, die Wenigleser weniger.
In keinem zweiten Staat des Westens, die USA eingeschlossen, spiegeln sich die sozialen Unterschiede so scharf und ungebrochen im Leseverhalten wie hierzulande. Nicht zufällig hantiert die Forschung inzwischen mit einem Begriff wie "Leseverlierer". Was machen die Finnen besser? Bodo Franzmann, "Leseforscher" der in Mainz arbeitenden Stiftung Lesen, nennt drei Gründe auf Anhieb: ein sehr gutes und sozial durchlässiges Schulsystem; die selbstverständliche Lektüre von Zeitschriften, Zeitungen - und nicht etwa nur von Belletristik - im Unterricht; ein lust- und zielbetontes Arbeiten mit Texten.
Man könne Lesestoff zum Beispiel nicht benoten, sagt Franzmann, wie das hierzulande geschehe. 42 Prozent der deutschen Schüler, teilt er mit, geben an, dass sie nicht zum Vergnügen lesen. Selbstverständlich gibt es "Zeitung in der Schule"-Projekte; aber, erstens, seien das zu wenige und, zweitens, zeige ja die Notwendigkeit solcherart Projekte, wo der Mangel liegt.
Für Franzmann liegt das Notwendige im selbstverständlichen Schulumgang mit jeder Art von Text. Tatsächlich ist in Deutschland, wenn vom Lesen geredet wird, vor allem das Schmökern von Belletristik gemeint: ein Irrtum. Lesen meint vor allem "verstehendes" Lesen, zu dem die Lektüre von Tabellen, Diagrammen und Grafiken genauso gehört wie die eines Gedichtes.
Die Verantwortung der Schulen wird steigen, denn die Familie als Ort der Lesesozialisation verliert rasant an Gewicht. Gaben 1992 37 Prozent der Schüler an, dass in ihrem Elternhaus auf ihre Lektüre geachtet wird, waren es 2000 nur noch 24 Prozent. Sechs Prozent der Deutschen lesen täglich in einem Buch, vor acht Jahren waren es noch 16 Prozent. Man liest, wenn man zufällig Zeit hat, und das selektiv: im Häppchen-Format.
Lebenschancen sind von Bildungschancen kaum zu trennen, deshalb bleibt das Lesen eine Schlüsselkompetenz. Wie es um das Lesen steht, zeigt deutlich, wie es um Deutschland bestellt ist. Sachsen-Anhalt zum Beispiel besitzt - der Studie "Lesen heute" (2002) zu Folge - mit drei Prozent die wenigsten Vielleser (Bayern 7 Prozent) und mit 29 Prozent die meisten Nichtleser (Bayern 21 Prozent).