Welthits Welthits: Berühmte Taube
Halle/MZ. - Der nach seinen wilden Anfangsjahren dem Schmalz nicht abgeneigte Rock'n'Roll-König begegnete während seiner "Muss I denn"-Monate im schönen Friedberg einem neapolitanischen Sehnsuchtslied namens "'O Sole Mio". Beziehungsweise einer bastardisierten, italoamerikanischen Version namens "There's No Tomorrow". In der ging es schon nicht mehr um das mediterrane Leuchten, das dem Sänger aus dem Gesicht eines geliebten Mädchens entgegen strahlt. Sondern um das Drängen der Liebe, dem man besser heute als morgen nachgeben sollte.
Dem wehrdienstleistenden Hüftschwinger war das noch nicht direkt genug. "It's Now or Never" heißt Elvis' Version von "'O Sole Mio" - wenn nicht sofort was läuft, warten noch genügend andere. Die Botschaft kommt an. "It's Now or Never" wird zur meistverkauften Single in Presleys Karriere. Und wie das so ist mit großen Hits: Man will sie sofort wiederholen. Die besten Komponisten und Arrangeure machen sich auf die Suche. Don Robertson wird fündig, ihm fällt eine Melodie ein, die er als Kind geliebt hatte: "La Paloma" - die weiße Taube. Den Text hatte Robertson vergessen. Egal. Bei "No More" gibt es keine Taube mehr, nur eine ungenannte Schöne, die Elvis im Film "Blue Hawaii" verlassen hat. Kein Riesenhit, diesmal. Aber der Soundtrack wird zu Elvis' meistverkaufter Langspielplatte.
Presleys Gespür fürs Populäre hatte zwei Songs zusammengebracht, die wohl drei häufig wiederholte Musik-Klischees im Alleingang begründeten. Dass nämlich, erstens, es sich bei der Musik um eine Sprache handele, die jeder verstehen könne. Dass sie, zweitens, in der Luft liege. Dass es, drittens, Lieder gäbe, die um die Welt gingen.
Nun haben sich zwei Bücher und ein Dokumentarfilm beider Lieder angenommen, die schon Globalisierungsgeschichte schrieben, als Coca-Cola noch am Sodabrunnen der Apotheke verkauft wurde. Paquito Del Bosco erzählt die Geschichte des "berühmtesten Lieds der Welt" - gemeint ist hier "'O Sole Mio" - bei Wagenbach. Sigrid Faltin hat "La Paloma" in den entlegensten Ecken der Welt aufgespürt, ihr Dokumentarfilm kam Ende Juni in deutsche Kinos. Das Buch, das sie mit Andreas Schäfler zum Film geschrieben hat, ist bereits im Mare Buchverlag erschienen - zusammen mit einem aberwitzigen Vier-CD-Schuber, der über 100 "La Paloma"-Versionen vereint.
Beide Lieder schillerten von Anfang an zwischen zwei oder mehreren Orten, speisten sich aus Sehnsucht, aber auch aus Rastlosigkeit. Einen gesicherten Entstehungsort gibt es weder für die Sonne noch für die Taube. Doch können wir uns auf eines einigen: Diese universellen Gesänge entstanden im Transit. Ging das Lied von der Sonne im Osten auf? Einiges spricht dafür. Als er die Melodie von "'O Sole Mio" findet, tourt der neapolitanische Wandermusiker und Komponist Eduardo di Capua durch Russland. Der Legende nach gießt ein heimwehkranker Di Capua "an einem trüben Apriltag des Jahres 1898 am Schwarzen Meer seine Erinnerungen an die Sonne von Neapel" in Musik. Und auch die kommt von weit her. Angeblich fällt Di Capua die bekannte Melodie ein, als er dem Gesang eines persischen Teppichhändlers in Odessa lauscht. "'O Sole Mio" - persischer Italo-Pop aus Russland? Und wie kam der Komponist an den Text seines Landsmanns Giovanni Capurro? Hatte er ihn mit auf die russische Reise genommen, ließ er ihn sich nach Odessa schicken? Und warum setzt Di Capua sein Lied in "Tempo di bolero"? Das hat vor ihm noch kein Kanzone-Komponist getan.
Ebenso verwirrend ist die Entstehungsgeschichte von "La Paloma". Die Taube schlug im Westen zum ersten Mal ihre Flügel. Sebastián Iradier, baskischer Komponist und Texter von "La Paloma", befindet sich Anfang der 1850er Jahre auf Tournee, leitet das Orchester für die Diva Marietta Alboni und das neunjährige Gesangswunder Adelina Patti. Nach Stationen an der US-Ostküste reist die Kompanie über New Orleans und Mexiko bis nach Kuba. "Als ich Havanna verließ / Sah mich keiner weggehen außer mir", beginnt der Originaltext von "La Paloma". Nur leider hinterlässt Iradier keine Spuren in der Stadt. Und obwohl vieles an "La Paloma" auf Kuba verweist - der Inhalt, einige Slang-Ausdrücke im Text und nicht zuletzt der Habanera-Rhythmus - bleibt Iradiers Havanna-Aufenthalt undokumentiert und damit auch das Entstehungsjahr - zwischen 1855 und 1861 ist alles drin. Aber vielleicht erklären gerade diese Unschärfen den weltweiten Erfolg der Lieder, der weniger auf ihrer Durchschlagskraft, denn auf ihrer Anpassungsfähigkeit beruht. Ein neapolitanischer Bolero, eine baskische Habanera, zwei Rhythmen, in denen sich die höfische Contradanza mit afrikanischen Elemente verschmolzen hatte: Weltmusik.
In Mexiko wird "La Paloma" zum Lieblingslied des von Napoleon III. dort installierten Kaisers Maximilian. Die Republikaner, die Maximilian schließlich an die Wand stellen werden, dichten ihre eigene Version, diesmal ein Spottlied auf den unglücklichen Kolonialkaiser. 140 Jahre später singt Mexiko wieder "La Paloma": Eugenia León hat das Lied zu einer Protesthymne gegen den vorgeblichen Wahlbetrug am linken Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador umgedichtet.
Ein Seemannslied ist "La Paloma" nur in Deutschland, vor allem dank der torkelnden Version von Hans Albers in "Große Freiheit Nr.7" und der schnittigeren Variante Freddy Quinns. Für die Banater Schwaben, der deutschsprachigen Minderheit im Grenzgebiet von Rumänien, Serbien und Ungarn, ist "La Paloma" ein Trauerlied. Ihre Blaskapellen spielen es zu Kirchweihfesten und vor allem zu Beerdigungen. In Hawaii zupft man "La Paloma" auf der offen gestimmten Gitarre, die man nach der Inselgruppe benannt hat. Mexikanische Gaucho hatten Gitarre und Lied über den Pazifik importiert.
Wo man hinkommt, "La Paloma" war schon da. Auf Sansibar gilt es als sansibarisches, in Spanien als spanisches und in Tschechien als tschechisches Volkslied. "'O Sole Mio" konnte dagegen seinen neapolitanischen Charakter nie verleugnen, hat dafür aber jeder Art von Interpret als Popsong gedient. Enrico Caruso und Ray Charles, Paul McCartney und Dean Martin, Peter Alexander und Luciano Pavarotti. Und es erklang als erster Song außerhalb unserer Atmosphäre. Am 12. April 1961 umkreist Juri Gagarin als erster Mensch im All die Erde. In seiner kleinen Kapsel schmettert er "'O Sole Mio". Das Lied, das die ganze Welt umfasst.
Und die weiße Taube? Sie kann ohne Atmosphäre nicht existieren. Doch wer die atmet, singt von ihr. Der Münchner Musiker Kalle Laar sammelt seit Jahrzehnten "La Paloma"-Aufnahmen. Mittlerweile ist seine fünfte und sechste "La Paloma"-Sammlung bei Trikont erschienen. Von Charlie Parker über Amon Düül II bis hin zu Jaco, dem singenden Papagei in einer DDR-TV-Show: Hier fehlt keiner. Nur Elvis, da waren die Rechte zu teuer.