Volker Braun Volker Braun: Bitterode ist überall
Halle (Saale)/MZ. - Am Ende nahen die Helikopter. Kampfhubschrauber der Bundeswehr, die im donnernden Sinkflug über der Kali-Halde kreisen. Auf die haben sich Hunderte Menschen gerettet, um für ihre Arbeitsplätze zu streiten. Dafür, dass nicht einfach Schicht ist im Schacht. Männer und Frauen aus Mitteldeutschland - von der Staatsmacht gehetzt so wie der Regen einen Sturm vor sich her peitscht.
Arbeitskampf im Cinemascope-Format also. Und plötzlich: ein Schuss. Von unten erst. Dann Schüsse von oben. Tränengas aus anrückenden Panzern. Panik auf der Halde. "So wogte die Menge hin und her wie ein kochender Teig auf der Herdplatte, und wurde von den Rotoren weggeschabt." Ein wilde Szene. Mörderisch auch. "Es gaben einige Kaltblütige aus Leuna Schüsse ab und verwundeten drei Rekruten, dann war in konzentrischem Anlauf das Schlachtfeld abgeräumt." Das Volk wird entsorgt, fort in die Strafanstalten, Krankenhäuser - oder Leichenschauhäuser. "Die Berndt war, man wußte nicht wann, zusammengebrochen, und Kalgroth, Brothuhn und Schneider brachten sie auf dem roten Lappen." Der Lappen, der tatsächlich eine Fahne ist.
So hätte es gewesen sein können. Nicht 1921, als von dem Anarchisten Max Hoelz geführte Arbeiterkampfgruppen durchs Mansfeld zogen. Sondern 1993, als die Kalikumpel aus Bischofferode im Eichsfeld gegen die Stilllegung ihres Schachtes protestierten. Mit Arbeitsniederlegung erst, dann mit Hungerstreik, schließlich mit einem Marsch nach Berlin. Hin zur Treuhand, die das gesunde Unternehmen den Wettbewerbsinteressen der hessischen Stollen der BASF-Tochter Kali+Salz geopfert hatte. Mehr als 700 Arbeitsplätze.
Man hat Bischofferode vergessen. Einen Arbeitskampf, der über Wochen für Schlagzeilen sorgte: "Bischofferode ist überall". Wenn auch nicht für immer. Volker Braun hat diesen Fall ans Licht geholt, um ihn als Kern seiner Erzählung "Die hellen Haufen" zu gebrauchen. Und damit alles das, was am 1993er Kali-Kampf faktisch vergessen sein mag, aber sittlich-politisch nicht erledigt ist. Das Geschehen aus heutiger Sicht: Ein bestürzend naiver Protest trifft auf eine erstaunlich kaltschnäuzige Macht. Erstaunlich in der Ehrlichkeit, mit der die Vernichtung der Ost-Konkurrenz herbeigeführt wurde - gegen den Protest der Kalikumpel, der auf eine mitleidheischende Weise hilflos war. Und - bis auf die Medien - übersehen von der unmittelbaren Mitwelt im Osten, die ja seinerzeit noch ihre eigenen Felle ins Trockene zu bringen suchte. Der Marsch auf Berlin? Braun hat recht, wenn er schreibt: "Eine Karnevalsrotte, man applaudierte diesen Artisten, aber keiner kam mit."
Aber Braun weiß: Vergangenheit ist mehr als das, was auf den Fernsehbildschirmen verflimmert. "Man glaubt Geschichte zu kennen", schreibt der Büchnerpreisträger des Jahres 2000, "aber sie hat mehr in sich, als sich ereignet: auch das Nichtgeschehene, Unterbliebene, Verlorene..." Nämlich: "All das Ersehnte, nicht Gewagte, und die alte Lust zu handeln. Tief verborgen, verschüttet, zubetoniert der Widerstand; die hellen Haufen, die nicht losgezogen sind, um die Schlacht zu schlagen." Also eröffnet Braun noch einmal die Partie: "Ich beginne wie ein Narr mit den Fakten." Ein starker Satz, der eben auch meint: Wer zum Tatsächlichen nie das Mögliche hinzudenkt, begreift die wirkliche Lage nicht.
Das Tatsächliche ist schnell erkennbar, weil es leicht verfremdet ist. Alles ist da: der Kalischacht, der Hungerstreik, der Protestzug nach Berlin. Der Ort heißt Bitterode, der Treuhandchef Schufft, die Bundestagspräsidentin Süßmund, Schurlamm heißt ein Pfarrer, der 1983 in Wittenberg ein Schwert zur Pflugschar schmieden ließ.
Der Leser findet sich also schnell zurecht in der dreiteiligen Erzählung, die erst nach Bitterode, dann ins Mansfeld, schließlich zum Showdown auf den Kalifelsen führt. Denn anders als das wahre Bischofferode ist Brauns fiktives Bitterode der Anlass einer flächendeckenden mitteldeutschen Solidarisierung. In "hellen Haufen" sammelt sich das Volk ("arbeitssam, zaumselig") wie einst die Truppen des Bauerkrieges, um für eine handgreifliche materielle und politische Teilhabe zu streiten. Nach dem Staatseigentum ohne Demokratie für ein tatsächliches Volkseigentum mit Demokratie. Zwölf Artikel fassen "Die Mansfelder Artikel", unterschrieben "von den gleichen Rechten aller". Artikel eins: "Die Arbeit ist gerecht zu verteilen, unter allen, die Anspruch haben".
Es ist keinesfalls das erste Mal, das sich Braun dem mitteldeutschen Kernrevier zuwendet. Aber, bei aller Fiktionalisierung, so illusionslos - dabei frei von Verzweiflung! - geschah das noch nie. Und so altmeisterlich in der Zeichnung von Land und Leuten. Müntzer und Hoelz, die Landräte von Hettstedt und Eisleben, das Mansfeld ("immer ein unruhiges Land, freilich in gehöriger Tiefe") und dessen Dreckschweinfest ("ein Heidenspaß"): Alles gerät pointiert ins Blickfeld. Immer wieder die Natur: "Sie zog ihr Gewölk zusammen und bog die Birken und Erlen unter der volkstedter Halde mit ungeheuren Stößen". Ernsthafte Landschaft.
Vom Mittelalter an legt Braun die mitteldeutsch-mansfeldischen Linien frei, an denen entlang sich die Kämpfe um eine gelungene Herrschaft ereignen; das Scheitern auf offener Strecke ist für den 72-Jährigen für nichts ein Beweis. Unverkennbar liefert Volker Braun mit dieser Erzählung einen geistig-ästhetischen Vorlass. Ein Buch der Summe, das Prosa von kristalliner Schönheit bietet, in vieler Hinsicht heutig und hart.