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"Verwirrnis" "Verwirrnis": Nöte eines homosexuellen Paares in der Nachkriegsgesellschaft

Von Christian Eger 04.09.2018, 10:00
Christoph Hein, 74, Schriftsteller in Berlin
Christoph Hein, 74, Schriftsteller in Berlin Peter Endig/ picture alliance/ dpa

Halle (Saale) - Gegen Ende des Romans, wenn das Geschehen im Leipzig der frühen Nach-Wendejahre rasant an Fahrt gewinnt, zieht der Rektor der Leipziger Universität die Reißleine. Carsten Johannes Cornelius, ein politisch unbelasteter Mathematiker, legt sein Amt nieder. In einem Offenen Brief an die Dresdner Landesregierung rechnet er mit der neudeutschen Hochschulpolitik ab, die von ihm nicht mehr mitgetragen werden kann.

Er zählt die Entlassungen auf, die er durchsetzen musste, um die Universität auf West-Niveau zu schrumpfen. Er beklagt, Kolonialoffizier-Attitüden von eingereisten Kräften. Er erklärt, dass er sich von der Landesregierung missbraucht fühle, dass die Hochschulen wieder von oben nach unten regiert würden, dass Wissenschaft über bürokratische Exzellenzwettbewerbe geplant werde. Vor allem kritisiert er eine staatliche Maßnahme, die die DDR nie gewagt hätte: Das Verscherbeln von Universitäts-Eigentum - von Immobilien, Grundstücken, Wäldern. Der Brief, der einschlägt, endet mit der Zeile „Nicht mehr mit mir“.

Väterliche Peitschenschläge

Dieses Bekenntnis ist die Leitformel des Romans, mit dem sich Christoph Hein erneut als ein sachlich und künstlerisch souveräner Chronist der jüngsten ost-west-deutschen Vergangenheit erweist. „Verwirrnis“, so der Titel des neuen Buches, fügt sich schlüssig in die Reihe der jüngsten, sehr erfolgreichen Romane des Berliner Schriftstellers ein.

Einmal mehr lässt sich dieses Buch als ein Vater-Sohn-Roman lesen. Reflektierte Christoph Hein in „Glückskind mit Vater“ (2016) die Last des nazistischen, mit „Trutz“ (2017) das des kommunistischen Vatererbes, setzt dieses Buch nun mit der Last eines christlichen Vaters ein, der seine Familie mit alttestamentarischer Brutalität in Schach hält.

Pius Ringeling, ein katholischer Gymnasiallehrer im thüringischen Heiligenstadt, der mit Anstand über die NS-Jahre kam, regiert seine zwei Söhne mit einem „Siebenstriemer“. Eine Peitsche, die sieben je achtzig Zentimeter lange Lederstreifen bündelt, mit denen Ringeling die Kinder züchtigt. Im Anschluss an die Prügel-Orgien stellt der Vater stets die Frage, wen die Bestrafung am meisten schmerze. „Dich, lieber Vater, dich“, antworten die Kinder.

Christoph Hein folgt dem Lebensweg des jüngeren, 1933 geborenen Sohnes Friedeward, der früh seine Homosexualität begreift, die er aber nicht öffentlich bekennen kann. Er verliebt sich in Wolfgang, den Sohn des örtlichen Kantors, mit dem er eine Beziehung eingeht, die auf beiden Seiten durch weibliche Partner getarnt wird. Ihm war „das Verheimlichen zur zweiten Natur geworden“. Die Verbindung zu Wolfgang hält bis zum Mauerbau. Dann verschwindet der Geliebte im Westen.

Friedewards Weg ist voll von Verwirrnis, die einen teuflischen Zustand bezeichnet - eine Unordnung, die alle Lebenstatsachen ins Rutschen bringt. Diese Haltlosigkeit findet ihre verschiedensten sozialen Fassungen, die der Roman bis in die frühen 1990er Jahre beschreibt.

Erinnerung an Hans Mayer

Wie noch immer entfaltet Hein das große Panorama der Zeit. So landet Friedeward als Germanistik-Student in Leipzig, wo er der bevorzugte Schüler jenes Professors wird, der im Roman nur als „Goethe-höchstselbst“ geführt wird. Unschwer ist der berühmte Hans Mayer (1907-2001) zu erkennen, der 1963 aus der DDR getrieben wurde. Der Roman zeigt dessen faszinierende Persönlichkeit unverstellt. Und die Nöte eines DDR-Akademikers vor und nach 1989. Es gibt bislang kein treffenderes und redlicheres Porträt dieses bis heute streitbar-anregend nachwirkenden Intellektuellen, dessen Homosexualität Hein nicht eigens thematisiert.

Friedeward, der schwer an der Last seiner Herkunft trägt, ist ein in familiärer und gesellschaftlicher Hinsicht Überlebender, dessen Leipziger Alltag ständig in abgründige Gefahren gerät, für die er nicht unmittelbar verantwortlich ist. Aber von einem gewissen Punkt an mittelbar eben doch. Denn der Ansage „Nicht mehr mit mir“ wäre auf verschiedene Weise zu folgen. Nicht allein durch Rückzug oder Tarnung, sondern auch durch Aufbruch.

Hein zeigt sein ganzes Können. Er schreibt federnd, unterhaltsam, aber niemals kitschig. Er hält Distanz bei aller Nähe zu seinen Figuren. Er lässt sich nicht von den Attraktionen des Stoffes verführen. Auch nicht im Politischen. Der 17. Juni 1953 taucht in zwei, der Mauerbau 1961 in nur einem Absatz auf. Mehr ist nicht notwendig. Hein meidet die zeitgeschichtlichen Stereotype, was seinen Blick auf die deutsche Vor- und Nachwende-Gesellschaft interessant macht.

Bis zuletzt ist die Verwirrnis, die der Roman vorführt, voll von überraschenden Wendungen, die den Leser einfangen, ohne ihn gefangen zu nehmen. Man liest die Lebensentscheidungen der Romanfiguren mit - und gegen die eigene Existenz. Das fesselt. Wie selten: Ein psycho-sozialer Roman, den man klüger verlässt.

Christoph Hein: Verwirrnis. Suhrkamp Verlag, 303 Seiten, 22 Euro

(mz)