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Fernsehen Verschwinden in ein neues Leben - die Doku „Johatsu“ im TV

Jedes Jahr werden in Japan 80.000 Menschen vermisst gemeldet. Tausende tauchen nie wieder auf. Ein berührender Dokumentarfilm auf Arte zeigt Frauen und Männer, die nicht mehr gefunden werden wollen.

Von Christof Bock, dpa 17.11.2025, 04:10
„Nachtfluchtunternehmen“ schicken zu jeder Uhrzeit Möbelwagen.
„Nachtfluchtunternehmen“ schicken zu jeder Uhrzeit Möbelwagen. Andreas Hartmann/Arte/dpa

Berlin/Osaka - Mitten in der Nacht beginnt Herr Oda sein neues Leben. Mit wenigen Kleidern am Leib und einem Stoffbeutel in der Hand rennt er aus der Tür, klettert hektisch in den wartenden Umzugswagen. Sofort rast das Fahrzeug los. „Schon gut. Niemand folgt uns“, beruhigt man ihn sanft. Herr Oda ist völlig unter Schock, dass ihm endlich die Flucht gelingt. Seine psychisch kranke Freundin hatte ihn lange eingesperrt.

Jahr für Jahr verschwinden in Japan viele Tausend Menschen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Manche fliehen wie Herr Oda vor Gewalt in der Beziehung. Andere sind in ihrer Karriere gescheitert. Sie haben Angst, Schande über ihre Familie zu bringen. Oder sie haben Schulden bei der Mafia angehäuft. Man nennt die Verschwundenen „Johatsu“, was soviel wie „verdunstet“ heißt.

Ein ganzer Wirtschaftszweig lebt davon

Der deutsch-japanische Dokumentarfilm „Johatsu - Die sich in Luft auflösen“ zeigt überraschend intim Menschen, die alle Zelte abbrechen und ihr Leben an einem anderen Ort fortsetzen. Versteckt leben sie in kleinen Zimmern, haben unauffällige Aushilfsjobs. Das sehr sehenswerte und erschütternde Werk von Andreas Hartmann und Arata Mori läuft am Montag (17. November) um 22.55 Uhr auf Arte. 

Das Phänomen hat seit der asiatischen Wirtschaftskrise der 1990er solche Ausmaße angenommen, dass in Japan ein ganzer Wirtschaftszweig drumherum entstanden ist. „Nachtfluchtunternehmen“ schicken nicht nur den Möbelwagen, egal wie spät es ist. Menschen wie Saita - seit 26 Jahren im Nachtflucht-Geschäft - organisieren auch eine neue geheime Bleibe. Sogar einen Arbeitsplatz besorgt sie, wenn nötig. Ihre Klientinnen und Klienten stehen oft mit dem Rücken an der Wand. 

„Ich komme in drei Tagen wieder“

„Ich komme in drei Tagen wieder“, hat Sugimoto zu seinem kleinen Sohn gesagt, bevor er im Großstadtdschungel von Tokio verschwand. Als sein Familienunternehmen pleite ging, konnte er die wachsenden Schulden und die Schande, die sie seiner Familie aufbürden, nicht ertragen. Sugimoto hofft nach vielen Jahren noch immer, eines Tages die Schulden abzutragen.

Kanda verschwand vor 37 Jahren als junger Mann auf der Flucht vor der Yakuza, der japanischen Mafia, und ließ seine Familie zurück. Heute sammelt er Getränkebüchsen auf. Nach langer Zeit in einem Tagelöhner-Viertel in Osaka nimmt der Endfünfziger allen Mut zusammen und macht sich auf die Reise in seine Heimatstadt, um seine Mutter wiederzusehen. Sie ist inzwischen dement.

Die Zurückgelassenen: verzweifelt

Aber der Film zeigt auch die Perspektive der Zurückgelassenen, die oft keinerlei Erklärung bekommen. Goto ist eine alleinerziehende Mutter, die auf der Suche nach ihrem verschwundenen Sohn ist. Wegen der strengen japanischen Datenschutzgesetze erhält sie keine Unterstützung durch die Polizei. Sie wendet sich verzweifelt an Privatdetektiv Kudo, der „Verdunstete“ aufspürt.

„Johatsu“ lief im Westen auf vielen Festivals, jedoch nicht im Land, wo der Film entstand. Wie das Magazin „Tokyo Weekender“ berichtet, versprachen Hartmann und Mori allen vorkommenden Menschen, dass sie in Japan nur anonym zu sehen sind. Mit Deepfake-Technik wurden alle Gesprächspartner verändert.