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Königssohn mit Pottfrisur sucht Braut Königssohn mit Pottfrisur sucht Braut: Warum uns deutsche Wintermärchen so verzaubern

Von Imre Grimm 24.12.2019, 08:00
Weihnachtsklassiker: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel.
Weihnachtsklassiker: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel. WDR/Degeto

Berlin - In alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, war ein Winter noch, wie Winter sein sollen. Mit Eiskristallen an den Fensterscheiben, mit Schlittenfahrten bei Glockengeläut in der Dämmerung.

Und mit Schnee, viel Schnee. Es liegt ein märchenhafter Zauber auf einer verschneiten Welt. Natürlich stimmt das nicht. Je älter der Mensch, desto tiefer der Schnee in seiner Kindheit. Das Gehirn erzählt sich selbst gern Geschichten. Aus Erinnerungen macht es, was es will, weil es Eindeutigkeit liebt. Eindeutig Winter, eindeutig Sommer. Sieben Grad und Nieselregen sind nicht eindeutig.

Auftritt Aschenbrödel. Ein junges Mädchen reitet auf dem Schimmel Nikolaus durch verschneite Wälder. Es spricht mit dem Hund Kasperle, es schießt treffsicher einen Tannenzapfen vom Baum. Eine Eule spielt Schicksal, ein namenloser Königssohn mit Pottfrisur sucht eine Braut. Und am Ende guckt das Aschenbrödel kokett über die Schulter, und Liebe und Gerechtigkeit haben gesiegt.

Freunde im Westen

Für zehn Millionen Deutsche gehört der tschechisch-ostdeutsche Märchenfilm „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ von 1973 zur Weihnachtszeit wie Baum und Kerzen. Lange war der Klassiker ein ostdeutsches Phänomen. Der Westen liebte seinen „kleinen Lord“, der Osten sein Aschenbrödel. Inzwischen schlägt der tschechischen Erbsenleserin gesamtdeutsche Liebe entgegen, während der kleine Lord Fauntleroy zwar das Herz seines Großvaters, nicht aber das der ostdeutschen TV-Zuschauer erweichen konnte.

Weihnachtszeit ist Märchenzeit. Ohne Fantasie keine Märchen, ohne Märchen keine Fantasie. Die alten Geschichten sind Dünger für die Seele. In den Märchenwäldern des Unterbewusstseins wecken sie urmenschliche Gefühle. Weil Gut und Böse klar sortiert sind. Und weil es gemeinsame Geschichten und Rituale sind, die eine Gesellschaft zusammenhalten. Und in so komplexen, schwer zu entschlüsselnden Zeiten erhalten die alten, bauernschlauen Erzählungen einen tröstlichen Reiz. Manchmal tut es einfach gut, vor einer Gegenwart voller Grautöne in eine Welt zu fliehen, in der moralisch Schwarz und Weiß gelten.

Hollywood hat die Grimmschen Märchen für sich entdeckt

Die Renaissance der Märchen läuft auf vollen Touren. Hollywood hat sich auf den Grimmschen Stoff gestürzt wie Kinder auf den bunten Teller. Mit Kenneth Branaghs Realverfilmung von „Cinderella“. Mit der düsteren Schneewittchen-Variante „Snow White and the Huntsman“. Mit Hänsel und Gretel als rachsüchtige erwachsene Hexenjäger in „Witchhunters“. Mit Mystery-Serien wie „Grimm“ oder „Once Upon a Time“.

Kinder lieben es, die gleiche Geschichte immer und immer wieder erzählt zu bekommen. Sie wiegen sich in der seligen Sicherheit des Vertrauten. Dieselbe Sehnsucht treibt Aschenbrödels Gemeinde vor die Fernsehgeräte. „Aschenbrödel“ ist nicht bloß das „Pretty Woman“ der Siebzigerjahre. Es ist die Weihnachtsbotschaft in anderem Gewand.

Aber warum wurde ausgerechnet dieses verträumte, 82 Minuten lange Filmmärchen zum Ritual, obwohl es hunderte Märchenfilme gibt? Das liegt an seiner liebenswerten Biederkeit, an der Kraft der Geschichte, an der ikonischen Musik von Karel Svoboda – und an der zauberhaften Rehäugigkeit der damals 19-jährigen Hauptdarstellerin Libuse Safrankova. Sie darf nicht zur Party? Dann reitet sie eben allein! Mit Witz und Chuzpe erobert sie den Prinzen – nicht umgekehrt. Dieses selbstbewusste Aschenbrödel ist eine erstaunlich feministische Märchenfigur.

Stinkender Kunstschnee

Es ist gerade seine Putzigkeit, die den Film unsterblich machte. Die Kostüme, die kitschige Filmmusik. Die linkisch-gewundene Sprache. Die geföhnte Innenwelle des Königs, gespielt vom 2018 mit 87 Jahren verstorbenen Rolf Hoppe. Der Lampenschirmhut der Stiefmutter. Aber Kulte entwickeln sich gegen jede Vernunft und Logik. Wie im Fall der kroatischen Indianer der Karl-May-Verfilmungen. Wie im Fall der zuckersüßen „Sissi“. Sie wurden Kult, weil sie bürgerliche Sehnsüchte spiegeln. Nach Unschuld. Nach Freiheit. Nach Romantik. Und am Ende: nach Liebe.

„3HfA“, wie die Fangemeinde den Klassiker gern abkürzt, ist ein deutsch-deutsches Wintermärchen. Der Film ist in den Weihnachtstagen omnipräsent. Dabei sollte das Aschenbrödel ursprünglich über sommerliche Blumenwiesen reiten statt durch Schnee. Doch die DDR-Filmgesellschaft Defa drängte auf einen Dreh im Winter 1972/73, weil ihre Arbeiter noch Kapazitäten frei hatten. Gedreht wurde dann rund um Schloss Moritzburg bei Dresden, in den Filmstudios in Potsdam-Babelsberg und Prag, im tschechischen Wasserschloss Svihov und im Böhmerwald.

Die verschneite Idylle freilich ließ sich nur mit „Kunstschnee“ erzeugen. Er bestand aus Fischmehl – und stank erbärmlich. Die zeitgenössische Filmkritik war zufrieden. „Mit dem arbeitenden Volk ist dieses Aschenbrödel eng verbunden“, schrieb 1974 die „Liberal-Demokratische Zeitung Halle“.

Folie für Sehnsüchte

Das Märchen ist auch eine Folie für Sehnsüchte. „Mich rührt dieses junge Mädchen, dessen einzige Zuflucht das Grab der Mutter ist“, schrieb „Zeit“-Autorin Iris Radisch. „Sie ist keine Heilige, die sich demütig in ihr Elend schickt. Im Gegenteil: Sie will auch alles haben, was junge Mädchen sich bis heute überall auf der Welt wünschen: Gold, Silber, Kleider, einen Prinzen.“

Märchen waren zunächst gar keine Kindergeschichten. Märchen waren die Produkte einer voraufklärerischen Gesellschaft, die ihre Ängste und Wünsche in sich ständig wandelnde Geschichten voll naiver Moral kleidete. Allein von „Aschenputtel“ existieren mehr als 400 Varianten auf mehreren Kontinenten. Die Autorin Bozena Nemcova, auf deren Erzählung der Film basiert, nutzt auch Motive aus dem „Froschkönig“, dem „Eisernen Heinrich“ und „Frau Holle“.

Und warum nun ist Weihnachten auch ein Fernsehfest? Weil Familien ungewohnt viel Zeit miteinander verbringen. Und weil gemeinsamer Klassikergenuss deeskalierend wirken kann.

Am Ende sind der kleine Lord, der seinem grantelnden Großvater bei der Menschwerdung hilft, und das clevere Aschenbrödel in derselben Angelegenheit unterwegs: Sie tragen Liebe in die Welt. Das erinnert an einen jungen Mann, der in diesen Tagen vor etwas mehr als 2 000 Jahren antrat, die Welt aus den Angeln zu heben. (mz)