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"Hart aber fair" "Hart aber fair": AfD-Mitglied Guido Reil macht Flüchtlinge für sexuelle Übergriffe in Deutschland verantwortlich

06.09.2016, 08:15

Ein Jahr ist es her. In der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 beschlossen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr damaliger österreichischer Kollege Werner Faymann (SPÖ), die Grenzen ihrer Länder für tausende in Ungarn gestrandete Flüchtlinge zu öffnen. Mehr als eine Million Schutzsuchende kamen 2015 nach Deutschland. Und die Kanzlerin? Hält auch etwa ein Jahr, nachdem sie ihren mittlerweile historischen Satz zum ersten Mal sagte, an ihrem Credo fest: „Wir schaffen das.“ Nun, das muss sie vermutlich auch. Doch was haben die vergangenen zwölf Monate mit ihren Landsleuten gemacht? Glauben die auch (noch) daran?

Das Thema

Jahrestag der Grenzöffnung, der Triumph der AfD bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern – das Thema, über das ARD-Moderator Frank Plasberg am Montagabend bei „Hart aber fair“ diskutieren ließ, hatte durchaus seine Berechtigung. „Fluchtpunkt Deutschland – hat Merkel ihre Bürger überfordert?“ fragte er seine Gäste. Die Hoffnung vor Talkshow-Beginn: Vielleicht wird es ja eine konstruktive Debatte, an deren Ende eine echte Erkenntnis, unter Umständen sogar eine Handlungsempfehlung steht.

Die Gäste

Peter Altmaier (CDU), Chef des Bundeskanzleramtes und Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung: Der CDU-Politiker wurde nicht müde, den Kurs der Kanzlerin gegen alle Vorwürfe zu verteidigen. Zwar gestand Altmaier auch Versäumnisse in der deutschen Flüchtlingspolitik ein. In dieser historischen Nacht vor einem Jahr aber habe man trotz Risiken „aus humanitären Gründen gehandelt“. Im Übrigen habe Deutschland keineswegs die Grenzen geöffnet – die seien schließlich offen gewesen.

Wolfgang Sobotka (ÖVP), österreichischer Innenminister: Der Wiener nutzte jede Gelegenheit, um das „dauernde Versagen der EU“ anzuprangern und in diesem Zusammenhang die Verdienste der eigenen Regierung hervorzuheben. Tenor: Wenn Europa versagt, müssen sich die Nationalstaaten eben selber drum kümmern. Deutschland habe humanitäres Engagement gezeigt, aber auch eine Einladung ausgesprochen, „die von vielen falsch verstanden wird“. 


Gesine Schwan (SPD), Politikwissenschaftlerin und Mitgründerin der Humboldt- Viadrina Governance Platform: Nicht Merkels Credo, nicht ihr humanitäres Engagement – die Politologin mit SPD-Parteibuch machte etwas anderes als eigentliches Problem aus: Die Kanzlerin habe „bis heute“ keine Strategie. „Die Ratlosigkeit verunsichert die Bürger“. Den vielen AfD-Beitritten liege vermutlich auch zugrunde, „dass die Menschen das Gefühl haben, es wird nicht reagiert“, stellte Schwan unaufgeregt fest. Die EU müsse „die Flüchtlingsfrage mit der Stadtentwicklung zusammendenken. Dann merken die Menschen, es wird auch für ihre Entwicklung Geld ausgegeben.“

Herfried Münkler, Buchautor und Professor an der Humboldt-Universität: Sobald es hitzig wurde, hielt sich der Berliner Professor zurück. Merkel habe durchaus einen Plan gehabt, analysierte er sachlich. „Aber sie hätte das offensiver kommunizieren müssen“. Die Regierung habe angesichts der Alternativen vor einem Jahr sicherlich rational gehandelt. Zumal: Unter Zeitdruck habe man nicht den gleichen Überblick „wie wir jetzt im Nachhinein“. Die heutige Angst in der Gesellschaft rühre nicht von Erfahrungen, attestierte Münkler, sondern von einem „Bild von Fremdheit“.

Guido Reil, Ex-SPD- und aktuell AfD-Mitglied: 26 Jahre lang war der Bergmann, Betriebsrat und Gewerkschaftler aus Essen Sozialdemokrat. Dann trat er aus der SPD aus und in die AfD ein. Seinen Auftritt nutzte er dazu, sich als Kämpfer für den kleinen Mann zu profilieren. „Ich bin strotzsozial eingestellt“, betonte er. Was Multikulti sei, wisse er genau – schließlich sei er mit einer Russin verheiratet und habe türkische Kollegen. Aber die würden immer religiöser und nationalistischer. Immer mehr Fremde, immer mehr Kriminalität, noch nie so viele sexuelle Übergriffe – kaum ein Klischee, das der AfD-Mann in seinem emotionalen Ausbruch nicht bediente.

Krise nur auf wenige Schultern verteilt

Frank Plasberg stellte gleich zu Beginn die entscheidende Frage: Kann es ein „Weiter so“ geben? Dass AfD und NPD in Mecklenburg-Vorpommern insgesamt rund 25 Prozent der Wählerstimmen geholt hätten, stelle das demokratische System und alle Parteien vor eine Herausforderung, gestand Kanzleramtschef Peter Altmaier ein. Das Wahlergebnis habe ihn „erschüttert“. Nun müsse man überlegen, „wie wir dem falschen Eindruck entgegentreten, dass sich in diesem Land alles nur noch um Flüchtlinge dreht“.  Im Übrigen habe man durchaus schon vor einem Jahr eine Strategie gehabt: Nämlich illegale Migration auf lange Sicht zu  bekämpfen. In diesem Anliegen waren Altmaier und der österreichische ÖVP-Innenminister Wolfgang Sobotka ganz beieinander. Allerdings kritisierte Sobotka auch: Die Last in der Krise sei ungleich, nämlich auf wenige Schultern, verteilt worden. „Es braucht eine europäische Lösung“, forderte er. Die EU schaue in der Flüchtlingskrise derzeit nur als „Zaungast“ zu.

Ein Kurswechsel in der deutschen Politik, wie ihn nach der Landtagswahl der bayerische Finanzminister Markus Söder (CSU) forderte, sei nur ein „Etikett“, warnte der Berliner Professor Herfried Münkler. „Harte operative Politik sieht anders aus.“ Man müsse überlegen, wie man die, die hierher kommen, möglichst schnell integriere. Die Lösung: „Der Arbeitsmarkt ist der Integrationsmotor“. Zu sagen „Wir schaffen das nicht“ führe nur zu Resignation.

„Ein bisschen Sprachkurs“ und sonst nichts

Dass sich die Bürger allein gelassen fühlen, Angst haben – Politologin Gesine Schwan sah sich in diesem Zusammenhang dazu angehalten, die SPD zu verteidigen. Die sei schließlich in den vergangenen acht Jahren nicht federführend in der Flüchtlingspolitik gewesen. 
Glaubte man AfD-Mitglied Guido Reil, verweigere sich die deutsche Politik konsequent der Realität. Genau deshalb sei er aus der SPD ausgetreten. Und: Weil ihm dort niemand zugehört habe. Es gebe kein Integrationskonzept, schilderte Reil mit Verweis auf seine Heimatstadt Essen. Da werde dann „ein bisschen Sprachkurs“ gemacht „und sonst nichts“.

Mittlerweile stehe überall Security – und trotzdem häuften sich die Probleme. Und außerdem: So viele sexuelle Übergriffe in Schwimmbädern habe es vorher nicht gegeben. „Man kann die Augen nicht dauerhaft vor der Realität verschließen“, schimpfte Reil. 
Während Gesine Schwan darauf verwies, dass es die meisten sexuellen Übergriffe in deutschen Familien gebe – die Aufregung nach der Silvesternacht in Köln „ging los, als man das den Flüchtlingen zugeordnet hat“ –, sprach sich Altmaier dafür aus, den Migrantenstrom schon in Afrika zu stoppen, etwa, indem sich Deutschland dafür einsetze, dass „Niger als Transitland nicht mehr zur Verfügung steht“.

Wolfgang Sobotka hatte zum Schluss noch einen anderen Vorschlag parat: Er warb für die Lösung seines Kabinettskollegen Sebastian Kurz, der Flüchtlinge zunächst auf Inseln unterbringen will.

Reil redet sich in Rage

Frank Plasberg bemühte sich redlich, die zwischenzeitlich ziemlich erhitzten Gemüter zu beruhigen und ließ nicht locker, auf seine Fragen auch Antworten einzufordern, die über Floskeln und leeren Politik-Sprech hinausgehen. Allerdings war der Moderator dabei zeitweise genauso anstrengend wie seine wild durcheinander argumentierenden Gäste. Immer wieder unterbrach er sie mitten im Redefluss – und das mit solcher Vehemenz, dass der Zuschauer nur zustimmend zu nicken vermochte, als es Gesine Schwan irgendwann, ein wenig entrüstet, entfuhr: „Ich möchte gerne ausreden!“ 
Gut hingegen: Den AfD-Mann Guido Reil ließ Plasberg so lange reden, bis der sich in seinen eigenen Parolen erschöpfte.

Fazit

Teilweise war die Debatte nur schwer erträglich – und das lag nicht nur an Reils Parolen. Sondern vielmehr auch daran, dass die Gäste – wie immer in diesen Runden – ständig durcheinander und aufeinander einredeten. Zumal: Diesmal waren besonders viele Emotionen (und Frust) im Spiel. Wo sich der AfD-Mann Reil in Rage redete, war die professionelle Sachlichkeit von Herfried Münkler deshalb umso angenehmer.

Hat Merkel ihre Bürger nun überfordert? Zumindest ist die Stimmung angespannt, so viel ist klar. „Das Land ist politisiert wie lange nicht mehr“, hatte Plasberg schon zu Beginn seiner Sendung festgestellt. Aber was nun? Mehr erklären, mehr Geld in die Hand nehmen, mehr Integration – über diese doch sehr allgemeinen Lösungsansätze ging es am Montagabend nicht hinaus.