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G20-Gipfel in Hamburg G20-Gipfel in Hamburg: Eine persönliche Bilanz der drei Chaos-Tage

Von Melanie Reinsch 09.07.2017, 16:13
Steinewerfer in Hamburg
Steinewerfer in Hamburg dpa

Hamburg - Es war der emotionalste Moment in den vergangenen Tagen in Hamburg, ein Gänsehautmoment: Esther Bejarano ist Auschwitzüberlebende. 92 Jahre alt ist die Deutsch-Jüdin, zerbrechlich wirkt sie. Zwei Männer helfen ihr bei der „Solidarität statt G20“-Demo am Samstag von ihrem Rollstuhl auf die Bühne. Esther Bejarano hat eine Wut im Bauch, sie kann nicht aufhören aufzuschreien, sagt sie. Laut will sie sein, solange sie kann. Gegen Faschismus, Rassismus und Antisemitismus kämpfen.

Sie bekam minutenlang Applaus. Sitzende standen auf, Pfiffe, Jubel, Tränen in den Augen. Es gab Menschen, die behaupteten zuvor, wer nach den Ausschreitungen in der Freitagnacht im Schanzenviertel noch auf die Straße gehe, stelle sich auf eine Stufe mit den Straftätern. Esther Bejarano zeigt: Das Gegenteil ist der Fall.

„Wir zeigen Flagge gegen den Mob“

Es gab viele dieser besonderen Momente in den vergangenen Tagen. Überall in Hamburg traf man stolze, mutige, friedliche, kluge, solidarische und kreative Menschen, die etwas zu sagen haben, die politisch aktiv und interessiert sind, die die Welt ein bisschen besser machen wollen. Mal mittendrin, mal ganz am Rand.

Die Ladenbesitzerin an den Landungsbrücken, die sagt: „Ich mache doch meinen kleinen Laden nicht zu! Wir zeigen Flagge gegen den Mob.“ Und das am Hafen, wo keine 24 Stunden vorher Wasserwerfer die Straße unter Wasser setzen, es zu Straßenschlachten kam und nicht wenige Fenster zu Bruch gingen.

Der junge Mann mit dem Nasenring, der am Freitagabend am Rande der Straßenschlacht in der Schanze davon erzählt, wie die Polizei zusammen mit Demonstranten bei der „G20-Lieber tanz ich“-Demo tanzte, der beim Kunstprojekt „1000-Gestalten“ mitmachte und sich nun nicht mehr zu den Demos traute.

Wir unterhielten uns auf einer Brüstung. Dort, wo Vermummte Flaschen, Böller und Steine auf Polizisten warfen. Fünf Wasserwerfer standen vor uns an der Kreuzung. Man sah nur Rauch, Feuer, Bengalos und fliegende Gegenstände. Plötzlich ein schwarzer Mob von links, der Mann gab mir die Hand, damit ich von der Mauer springen konnte. Wir flüchteten gemeinsam. Kurze Zeit später räumte das SEK das Schanzenviertel.

Oder die junge Frau aus Frankfurt, die mit Tränengas in den Augen erzählt, dass sie doch niemanden verprügeln möchte, nur friedlich protestieren – und sich plötzlich mittendrin in einem Polizeikessel befindet aus dem sie nicht mehr herauskommt.

Gewalttäter ziehen sich um, Gruppen teilen sich

Die friedlichen Proteste werden überschattet und überlagert von der brutalen und sinnlosen Gewalt und Zerstörungswut des schwarzen Mobs, der in den vergangenen Tagen durch Hamburg jagte, Familienautos abfackelte, Beamte mit Zwillen beschoss, die Stadt verwüstete. Stumpfe Gewaltorgien gewalttätiger Irrer, die ganz Hamburg in Angst und Schrecken versetzten und die den friedlichen Protest dieser vielen anderen Demonstranten kaputt machen.

So umsichtig und vorsichtig man auch ist – manchmal steht man mittendrin, ungewollt. Man rennt. Irgendwo hin. Manche stolpern. Der Helm poltert gegen die Stirn. Warum ein Helm? Weil Flaschen und Steine fliegen. Der schwarze Mob ist nicht DER schwarze Mob, er zersplittert sich, zieht sich um, schwarze Kleidung, bunte, dann wieder schwarze, kommt wieder, rennt in die Menge, greift an, verschwindet zwischen den Häuserzeilen. Rund um die Reeperbahn ist das Gebiet unübersichtlich. Ein Park, ein Denkmal, Brücken, viele kleine Seitenstraßen, Nischen. „Pass auf dich auf“, wird zur Standardabschiedsfloskel an diesen Tagen.

Ein Restaurantbesitzer an der Reeperbahn schloss panisch seine Türen von innen, als der schwarze Block wie ein Orkan über den Außenbereich fegte. Plötzlich spritze der Wasserwerfer gegen seine Scheiben, direkt vor dem Fenster prügelte ein Polizist mit einem Schlagstock auf einen Demonstranten ein, das Glas zerbrach.

Fünf Vermummte jagen einen Polizisten

Es gab Situationen, da hatte ich Angst. Hier zum Beispiel: Fünf Vermummte jagen einen einzelnen Polizisten, der panisch in voller Montur einen Berg hochflüchtet. Ich dachte: Wenn sie ihn kriegen, schlagen sie ihn krankenhausreif. Und man kann nichts tun.
Und auch umgekehrt: Aggressive Polizisten, die junge Mädchen mit Turnbeuteln auf dem Rücken an die Wand schubsen, die mit dem Schlagstock in der Hand auf Unbeteiligte zuspringen. Unverhältnismäßig.

Oder das: Man steht auf einer Brücke und von rechts ziehen die Hundertschaften heran, von links der schwarze Block. Wohin jetzt?

Was in den vergangenen Tagen in Hamburg geschehen ist, macht mich immer noch sprachlos, fassungslos. Und es macht mich wütend, dass die vielen Stimmen der friedlichen, politischen Demonstranten leiser bleiben werden, als die der gewalttätigen militanten Straftäter, die die halbe Stadt zerlegt und Anwohner und Polizisten bedroht haben, die um ihr Leben fürchten mussten.