TV-Kritik zu "Günther Jauch" TV-Kritik zu "Günther Jauch": Das deutsche Gesundheitssystem - Diagnose klar Therapie fraglich

Berlin - Der Einstieg ins Thema ist noch klar und anschaulich: „Mit Menschenleben spielt man nicht“, sagt Stefanie Hehenberger, Friseurmeisterin aus Bayern, als Eröffnungsgast beim Sonntagstalk von Günther Jauch. Obwohl sie sich lange mit Symptomenwie Kopfweh, Lähmungserscheinungen und heftigem Zittern herumschlug, sollte sie ein halbes Jahr warten, bis ein Facharzt dem Verdacht auf einen Gehirntumor nachgehen könnte. Hätte sie sich damit wirklich zufrieden gegeben, hätte es ihr das Leben gekostet, heißt es bei Jauch.
Indem Günther Jauch seine Sendung mit diesem Publikumsgast eröffnet, eher er sich der Talkrunde zuwendet, will er den Ton für die Sendung setzen: Wenn seine Runde über „Das lange Warten auf den Arzttermin“ spricht, soll es nicht um deutsches Jammern auf hohem Niveau der statistisch eifrigsten Arztbesucher Europas gehen, sondern um Leben und Tod.
Doch nicht nur einige der folgenden Talkgäste widersprechen dem – auch viele Neunmalkluge haben im Internet schon vor Sendungsbeginn gemeckert, angesichts von Ukraine, Griechenland und Syrien sei unser Gesundheitssystem ein so irrelevantes wie unpolitisches Thema. Wirklich? Davon abgesehen, dass die Jauch-Redaktion in den letzten Wochen fast allein Ukraine, Griechenland, Terror und Pegida aufgriff: Man muss nicht erst nach Amerika blicken, um zu erkennen, wie politisch aufgeladen die Gesundheitsversorgung ist – und wie sehr auch in Deutschland schon ein Gerechtigkeits-Thema.
Gröhes Pläne sind relevanter als die von Pegida
Hinzu kommt: Obwohl jeder Deutsche betroffen ist oder sein könnte, kann man den Sendungsmachern nicht einmal keine Quotengeilheit unterstellen: Wie sich auch an diesem Sonntag wieder zeigt, kreisen Debatten zum Gesundheitssystem schnell um die immer gleichen, trockenen Spezialisten-Fragen wie Über- und Unterversorgung mit medizinischen Leistungen, Anreize gegen Hausarztmangel „im ländlichen Raum“ und Statistiken über die Häufigkeit von Arztbesuchen in der EU.
Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) darf als Gast zudem sein jüngstes Gesetz vorstellen, das im Sommer in Kraft treten und ab Anfang 2016 gegen Arzt-Mangel und zu lange Termin-Wartezeiten wirken soll. Auch dieses „Versorgungsstärkungsgesetz“ mit seiner zentralen Idee der „Terminservicestellen“ ist freilich nicht so knackig zu debattieren wie die Thesen von Pegida – wird für die meisten Deutschen aber schnell deutlich relevanter werden.
Zentralvergabestelle für Facharzt-Termine
So will Gröhe durchsetzen, dass Facharzttermine künftig von zentralen Stellen vergeben werden, so dass die Patienten im Idealfall nur eine Woche auf einen Termin warten müssen. Zudem sollen die Verteilung der Arztpraxen besser geregelt und auf dem Land neue Praxen eröffnet werden – wozu dem Gesundheitsministerium aber in erster Linie auch nur einfällt, dass die Verantwortlichen „stärkere Anreize“ dafür schaffen sollen, dass sich mehr Ärzte in „unterversorgten und strukturschwachen Gebieten“ niederlassen.
Diese Verantwortlichen geben in der Jauch-Runde jedoch in Gestalt von Andreas Gassen, dem Chef der Ärzte-Lobby „Kassenärztliche Bundesvereinigung“, allerdings sofort seinen Widerwillen gegen Gröhes Pläne zu Protokoll.
Immerhin zeigt der Talk schnell, dass sich Regierung und Ärzte in der Diagnose einig sind – übrigens auch mit der Vertreterin der Verbraucher, Susanne Mauersberg vom Bundesverband der Verbraucherzentralen, und dem Studienautor und Gesundheitsexperte der Bertelsmann-Stiftung, Stefan Etgeton. Beide bestätigen die langen Wartezeiten und regionale Unterversorgung.
Ärzte fordern Rationierung von Leistungen
Doch bereits die Frage, ob die Unterversorgung überhaupt ein lösbares Problem sei, entzweit die Ärzte vom Rest der Runde: Kassenärzte-Lobbyist Gassen will als zentrale Botschaft setzen, dass „unser unbegrenztes Leistungsversprechen bei der alternden Bevölkerung nicht einzuhalten ist“. Schon heute sei ein Großteil der 590 Millionen Arztbesuche im Jahr unnötig.
Sein Kollege Paul Brandenburg, Notfallmediziner und einschlägiger Autor, sekundiert: Zu viele Patienten gingen „zu oft, zu schnell und wegen Bagatellen zum Arzt“ – das sei künftig nicht mehr finanzierbar. Deutschland müsse sich eingestehen, dass künftig nicht jede Leistung, die medizinisch möglich ist, auch überall und jederzeit verfügbar sein könne.
Die Opposition fehlt in der Runde
Das freilich hätte man gern mit der zuvor aufgeblitzten Diskussion über die Zwei-Klassen-Medizin verbunden. Immerhin bestreitet niemand in der Runde, dass Privatpatienten keine Termin-Sorgen kennen – was im System genau so gewollt und angedacht ist. Wenn die Ärzte also sagen, „nicht mehr jede Behandlung kann es überall und jederzeit“ geben, müsste es also heißen: „jedenfalls nicht für die, die sie sich nicht leisten können“. Ein Oppositionsvertreter mit der Forderung, das Zweiklassen- zu einem gemeinsamen System für alle umzubauen, ist bei Jauch allerdings nicht eingeladen.
So gibt sich die Runde sich mit der Entgegnung des Ärzte-Sprechers Gassen zufrieden, dass die knapp zehn Prozent der privatversicherten Deutschen ja schon rein rechnerisch nicht den restlichen 90 Prozent die Terminkalender verstopfen könnten.
Tatsächlich streitet ja auch Verbraucherschützerin Mauersberg nicht ab, dass es in Deutschland ein Nebeneinander von zu viel und zu wenig ärztlicher Versorgung gebe. Ein Drittel der Notfall-Ambulanz-Fahrten habe sich als überflüssig erwiesen, sagt sie.
Da wirft Notfallmediziner Brandenburg halb politik-, halb selbstkritisch ein, dass der Abbau von Überversorgung – wozu etwa die Umverteilung von Arztpraxen in verschiedenen Regionen zählt – in der Hand der Ärzteverbände liege: die Frösche sollten also den Sumpf trocken legen. Daran ändere auch Gröhes neues Gesetz nichts. Die Politik mache es sich leicht – und schiebe die Verantwortung ab.