Toussaint über den Melancholiker Zinedine Zidane
Hamburg/dpa. - Die Welt hat gerätselt über die wahren Motive für Zinedine Zidanes Kopfstoß-Attacke beim Endspiel der Fußball-WM im vergangenen Sommer. Jetzt hat der französische Autor Jean-Philippe Toussaint («Fliehen» 2007, «Das Badezimmer», 2004) die Spekulationen um eine weitere Variante ergänzt: Seiner Meinung nach war der Kapitän der französischen Nationalmannschaft nicht beleidigt, sondern einfach voller Melancholie.
«Zidanes Melancholie» lautet auch der Titel des kleinen, um Fotos von Toussaint ergänzten, 25 Seiten dünnen Büchleins, das kurz vor dem ersten Jahrestag des letzten WM-Endspiels (9. Juli in Berlin) erschienen ist.
Schon im September hatte der von Zidane attackierte italienische Verteidiger Marco Materazzi den Wortwechsel zwischen beiden Fußballern enthüllt: Nach dem Zerren an Zidanes Trikot habe dieser herablassend gesagt: «Wenn Du mein Trikot unbedingt haben willst, gebe ich es dir nach dem Spiel.» Daraufhin habe er hinter Zidane hergerufen: «Deine Schwester wäre mir lieber.» Der Franzose algerischer Abstammung drehte sich um, ging mit strammen Schritten und gesenktem Kopf auf Materazzi zu und streckte ihn mit einem Stoß vor die Brust nieder. Das Spiel war aus für Zidane: Rote Karte und Sperrung für drei Spiele. Italien siegte mit 5:3 im Elfmeterschießen.
Kommentatoren behaupteten, Materazzi habe Zidane zutiefst beleidigt. In dem arabisch-islamischen Kulturkreis, aus dem er stamme, gelte es als Kränkung der gesamten Familienehre, die Schwester als Freiwild zu diffamieren.
Toussaint will von alledem nichts wissen. Zidane sei «von feindlichen Gottheiten der Melancholie» eingefangen worden, schreibt er. Das Endspiel hätte sein krönendes Abschiedsspiel werden sollen - doch stattdessen machten sich «Niedergeschlagenheit», «Müdigkeit und Erschöpfung» breit, führt Toussaint, der während es gesamten Spiels Zidane beobachtet hat, aus. Zum einen habe er sich durch seinen Ausbruch und den «vermasselten» Abgang die Zukunft als Fußballer offen gehalten, denn er habe nie wirklich aufhören wollen, meint Toussaint. Einen zweiten WM-Platz oder gar den Weltmeistertitel hätte Zidane seiner Ansicht nach als Schlussstrich erlebt: Er wäre damit zur Legende geworden - und das hätte der Fußballer wohl als gleichbedeutend mit dem Tod empfunden.
Außerdem sei die Attacke für Zidane ein «befreiender Schlag» gewesen - «eine Flucht, durch die er sich Erleichterung verschafft, außerstande, die ihn quälende Überspanntheit seiner Nerven» in den Griff zu bekommen. «Und unfähig, sich mit einem weiteren Tor zu verewigen, verewigte er sich in unserer Erinnerung», schreibt Toussaint.
Jean-Philippe Toussaint
Zidanes Melancholie
Frankfurter Verlagsanstalt
25 S., 6 Euro
ISBN 978-3-6270-0141-4