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Theater Theater: Naturkind Heidi auf der Musical-Bühne

Von Gregor Mayer 24.07.2005, 12:15
Sue Mathys in der Rolle der Autorin Johanna Spyri. Unter dem begeisterten Applaus von rund 2000 Zuschauern ist am Samstagabend (23.07.2005) auf der Seebühne im schweizerischen Walenstadt (Kanton St. Gallen) das Musical «Heidi» uraufgeführt worden. (Foto: dpa)
Sue Mathys in der Rolle der Autorin Johanna Spyri. Unter dem begeisterten Applaus von rund 2000 Zuschauern ist am Samstagabend (23.07.2005) auf der Seebühne im schweizerischen Walenstadt (Kanton St. Gallen) das Musical «Heidi» uraufgeführt worden. (Foto: dpa) KEYSTONE

Walenstadt/Genf/dpa. - Textautor Shaun Mc Kennan und KomponistStephen Keeling tauchen die parallel erzählte Geschichte von Heidiund ihrer Schöpferin Johanna Spyri in bewährter Andrew-Lloyd-Webber-Manier in pompöse - böse Zungen würden sagen: triefende - Romantik.

Nicht, dass die Schweizer die einzigen wären, die von Spyris Heidiprofitieren würden: Der erste Heidi-Stummfilm entstand 1920 in denUSA, und neben drei Schweizer Verfilmungen existieren eine japanischeZeichentrickserie mit 52 Folgen von 1977 und eine 26-teilige deutscheFernsehreihe von 1979 mit der Österreicherin Katja Polletin in derTitelrolle. Moderne Mythen sind eben immer auch global. Doch dieSchweizer haben bei der Heidi-Verwertung Heimvorteil - und spielenihn bereitwillig aus.

So ist das Heidi-Musical eine Idee des Managements der sogenannten Ferienregion Heidiland. 1996 gegründet, umfasst diese denWalensee und das Sarganserland im Süden des Kantons St. Gallen. Mitder «historischen» Heidi hat das verkaufsträchtige Label freilichwenig zu tun. Denn angesiedelt ist die Heidi-Geschichte im ÖrtchenMaienfeld im benachbarten Kanton Graubünden, wo man den Coup derNachbarn gar nicht witzig fand.

«Viele fanden, die St. Galler hätten uns das Heidi gestohlen»,erinnert sich der Maienfelder Stadtpräsident Christian Möhr.Inzwischen hat man aber Frieden geschlossen und sich auf eineinterkantonale Kooperation in Heidi-Fragen verständigt. Mit Heidiwirbt inzwischen sogar der Lebensmittelkonzern Migros für seineProdukte aus «reiner Schweizer Bergmilch».

Heidis Geschichte bietet sich zur permanenten emotionalen undkommerziellen Ausbeutung geradezu an: «Das Heidi», das naturnahe Kindaus den Schweizer Bergen, wird in der seelenlosen Großstadt Frankfurtkrank vor Heimweh. Die «zeitlose Ikone der heilen Bergwelt» - wie esFranziska Schläpfer, Autorin des «Schweizer Lexikons der populärenIrrtümer» formuliert - handelt somit vom Verlust der heilen Weltinfolge der Modernisierung. Und das berührt uns alle irgendwie.

Der Mythos als Vehikel der Verdrängung von Modernisierungsängstenregt aber Schweizer Autoren immer wieder auch zu kritischerAuseinandersetzung an. So erschien dieser Tage die Studie «DieSchwabengänger aus Graubünden» der Historikerin Loretta Seglias.«Schwabengänger» wurden im 19. Jahrhundert jene 6- bis 14-jährigenKinder aus der damals bettelarmen Schweizer Bergregion genannt, diesich zu Fuß auf den Weg machten, um sich in schwäbischen Städte wieRavensburg oder Überlingen als Billig-Arbeitskräfte zu verdingen.

Johanna Spyri spricht in ihrer «Heidi» Not und Elend ihrer Zeitnur subtil an und spart die wahren Härten aus. Heidi muss nur deshalbnach Frankfurt, um ihrer dort lebenden gehbehinderten Cousine eineGefährtin zu sein. Das Los der kleinen «Schwabengänger» war aber, wiein Seglias' Buch nachzulesen ist, ein vielfach grausameres: Siewurden wie Sklaven auf Märkten verkauft, mussten ständig arbeiten,konnten keine Schule besuchen und waren Gewalt und sexuellemMissbrauch ausgesetzt. Ein Stoff, der - anders als die Heidi-Story -zu keinem Happy-End taugt.