Theater Theater: Massenflucht bei Goethes «Faust II» in Weimar

Weimar/dpa. - Das Gros der Zuschauer im nicht ausverkauften Saal des DeutschenNationaltheaters folgte verständnislos oder verärgert der Lesartdes jungen Franzosen Laurent Chétouanes von der «Tragödie zweiterTeil». Pfiffe, Gelächter, Buhrufe, eine Massenflucht zur Pause vonmehr als einhundert Gästen, aber auch zustimmende Jauchzer undApplaus nach fast fünf Stunden Theater-Marathon zeigten dieMeinungspole zu dem Werk, in dem Mephisto Faust in die «große Welt»und quer durch die Geschichte führt.
Mit «Eine Beleidigung für Weimar» und «Das könnt ihr auf derReeperbahn spielen» machten Besucher ihrem Ärger Luft. Kein anderesStück der Klassiker wird in Weimar so mit Argusaugen bei jederNeuinszenierung beobachtet wie Goethes «Faust». Das Stück ist vielenein Heiligtum, das vor Angriffen oder gar Zerstörung geschützt werdenmuss. Nun drängen jedoch junge Regisseure ohne Ängste und Vorbehaltevor dem großen Text auf die Bühne, um die Stücke für ihre Generationzu erschließen. Erst vor wenigen Wochen hatte der junge TilmannKöhler seine Version von «Faust. Der Tragödie erster Teil» in demHaus vorgestellt, in dem Goethe mehr als 20 Jahre lang das Sagenhatte. Köhlers «Faust» mit zwei Gretchen und dem Rollentausch vonFaust und Mephisto spaltete ebenfalls das Publikum.
«Faust. Der Tragödie Zweiter Teil», der nach Goethes Willen erstnach seinem Tod veröffentlicht wurde, gilt wegen der Fülle anmythologischen, kultur- und zeitgeschichtlichen Bezügen als großeAufgabe und schwer spielbar. Bei Chétouane - bekannt wegen seinereigenwilligen Auslegung klassischer Texte - gibt es keineRollenverteilung. Jeder der fünf, zumeist jungen Schauspieler und derdrei Tänzer ist zugleich Faust, Mephisto, Helena, Homunculus oderEuphorium, das gemeinsame Kind von Faust und Helena, das für dieVerbindung der Antike und der deutschen Klassik steht.
Chétouane sagte vorab, er habe den Text im Sinne Goethes zuerstals «Versfabrik», als «poetische Maschine» begriffen. Das sei einegroße Befreiung gewesen. Er «konnte problemlos über unbekannteGestalten springen, ohne zu stolpern.» Sein Rat an die Zuschauer:«Vergessen Sie das Lexikon zuerst. Steigen Sie in den Rausch hinein.»Und «lesen Sie den Text wie ein Riesendelirium von einem Autor, derimmer etwas begehrt.» Er baut auf Textkenntnis und Fantasie desPublikums.
Aus dem Alterswerk Goethes hat der 1973 geborene Chétouane«Textinseln» herausgegriffen. In einem kargen Bühnenbild «bauen» dieAkteure Bewegungen und rhythmische Bilder, die oftmals keinensichtbaren Bezug zu Goethes Text haben und so das Verständnis nochmehr erschweren. Ratlosigkeit vor allem beim zweiten Akt unteranderem mit Laboratorium und der klassischen Walpurgisnacht, in demnur die Tänzer agieren und sprechen und mit ihrer Körperlichkeit undteilweisen Nacktheit die Zuschauer bis an die Grenzen herausfordern.
Starke Szenen gelingen dem Regisseur unter anderem am Schluss desStückes. Faust, mittlerweile hundert Jahre alt und blind, hält dielärmenden Lemuren, die sein Grab schaufeln, für seine Arbeiter beimDeichbau zur Landgewinnung: Mit Hacken und Spaten arbeiten sich dievier Schauspieler rhythmisch klopfend über den Bühnenboden.
Goethes «Faust» und Ostern gehörten jahrzehntelang in Weimarzusammen. An diesem Wochenende nun können Einheimische und Touristennach mehreren Jahren Pause gleich beide Teile erleben: «Faust I» amOstersonntag, «Faust II» am Montag.