The Gaslight Anthem The Gaslight Anthem: Neuer Wein in alten Schläuchen
BERLIN/MZ. - Für einen Moment sieht es beinahe so aus. Brian Fallon wickelt sich aus seinem Holzfällerhemd, knüllt es beiläufig zusammen, grinst ein großes Jungenlächeln und stutzt. In den ersten Reihen der ausverkauften Berliner Columbiahalle recken sich die Arme in die schweißfeuchte Luft, denn gleich wird der 29-Jährige das Hemd in die Menge werfen. Fallon hebt den Arm, holt aus. Dreht sich weg und befördert das Kleidungsstück mit einem fürsorglichen Schlenker hinter sich aufs Schlagzeugpodest.
Drei Stücke hat seine Band The Gaslight Anthem da gespielt und Berlin liegt ihm schon zu Füßen. Vor drei Jahren noch, wird er später erzählen, kamen gerademal zehn Leute zum ersten Deutschland-Auftritt der Truppe aus dem US-Bundesstaat New Jersey. Diesmal, eine halbes Jahr nach Erscheinen des dritten Albums „American Slang“, war die ursprünglich gemietete Astra-Halle nach drei Tagen ausverkauft. Die selbsternannten letzten „Jukebox-Romeos“ zogen in die größere Columbia-Arena um. Und auch für die sind wenig später schon keine Karten mehr zu haben.
Dabei sind die The Gaslight Anthem, die ihre Bühne mit einer Fahne des deutschen Fußballklubs St. Pauli schmücken, kein Rock-Phänomen der Art, die Erneuerung und musikalische Revolution predigen. Ganz im Gegenteil: Stücke wie „The 59 Sound“ oder „Old White Lincoln“ beharren auf bewährten Traditionen, zitieren den New Jersey-Nachbarn Bruce Springsteen, Woodie Guthrie und Pete Seeger, übersetzt in die Soundsprache von Punk und Grunge. Neuer Wein in alten Schläuchen, neue Hits auf die gute alte Art. Es gibt hier auch keine Großleinwände, kein Videogeflacker oder zirzensische Lichtspektakel. Da sind nur Fallon, Gitarrist Alex Rosamilia, Trommler Benny Horowitz und Bassmann Alex Levine und Melodien, die über dem tobenden Saal abregnen wie ein Sommergewitter. Jeder Tropfen ist ein Zitat, von Charles Dickens, der Fallons Song „Great Expectations“ inspiriert hat, bis zur „Maria“, die schon im Counting Crows-Hit „Round Here“ vor 17 Jahren mit einem Koffer in der Hand aus Nashville kam, um einen Typen zu finden, der wie Elvis aussieht.
Brian Fallon, der in seinen Texten die amerikanischen Mythen fortschreibt, auf denen schon Springsteen, Tom Petty und Neil Young ihre Karrieren gründeten, sieht eher aus ein bis zur Halskrause tätowierter Bastian Schweinsteiger. Zehn Jahre hat der Junge aus dem Örtchen Little Eden, das ebenso ständiger Topos in seinen Liedtexten wie die amerikanische Kleinstadt-Welt aus Autos, Mädchen und Jugendfreundschaften, auf den großen Durchbruch gewartet. Er hat derweil Lieder geschrieben, denen jedes Kalkül abgeht, in denen die Mädchen Victoria und Mary heißen und die Jungen von der großen Freiheit in Kalifornien träumen, wie das jetzt womöglich gerade der halbe Saal tut. Nichts hier ist modisch, nichts biedert sich modernen Trends an oder kapriziert sich auf musikalische Höchstleistungen. Umso überraschender ist der Aufstieg dieser sehr gewöhnlichen Band aus dem amerikanischen Rock-Untergrund zum internationalen Lieferanten von Hitparadenstoff gekommen.
Zufall, ein bisschen Glück, viel Arbeit und eine große Portion Glaubwürdigkeit brauchte es dazu. Little Eden ist überall, die Geschichten von Liebe, Lust und Trennung, die Brian Fallon erzählt, kennt jeder an jedem Ort der Welt. Dazu kommen die Strukturen klassischer Rocksongs, stilsicher zusammengebaut und dramatisch inszeniert: Ohrwurm folgt auf Ohrwurm, die Menschenmenge wogt im Takt und Vorsänger Fallon schaut von oben zu, als glaube er selbst noch nicht so richtig daran, dass das alles wahr ist. Schließlich singt er doch nur mit der Stimme eines Jungen von nebenan, was er selbst erlebt hat. Enttäuschte Liebe, kaputte Gebrauchtwagen, Lieder aus Omas altem Radio.
Die Band, angetrieben vom der Rhythmusmaschine Benny Horowitz, fegt atemlos durch alte Nummern wie „Angry Johnny and the Radio“ und aktuelle Songs wie „The Diamond Church Street Choir“, die Halle singt, der Schweiß tropft von der Decke, während die Hymnendichte nur immer weiter zunimmt. Jede Eröffnungszeile ist ein Chor, jeder Refrain ein Volltreffer, geradezu generationenübergreifend. Das Gefühl, immer auf irgendetwas zu warten, das Fallon in „Great Expactions“ besingt, kennt das Teenagermädchen offenbar genauso gut wie der grauhaarige Managertyp, der neben ihr mit den Knien wippt.
Rekordverdächtige sechs Zugaben packt das Quartett auf die planmäßige Lied-Lieferung drauf und am Ende geht es auf dem Rücksitz in die Nacht. „The Backseats“ ist wie eine Antwort auf Springsteens Hit „Backstreets“, in denen sich der Boss und seine Jugendfreunde einst ewige Treue schworen. Brian Fallon weiß, wies es wirklich läuft: Keine Luft zum Atmen dahinten, keine Luft zum Atmen mehr hier drin. Einen Augenblick lassen sie sich noch feiern, dann verschwinden sie, begleitet von hartnäckig tobendem Applaus. Nur Fallon kommt nochmal zurückgehuscht. Ruhm hin, weltweiter Erfolg her, die Kleinstadtjugend steckt dem Star wider Willen in den Knochen. Er guckt kurz und sammelt das gute alte Holzfällerhemd ein.