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Thalia-Theater Thalia-Theater: Märchen aus uralten Zeiten

Von ANDREAS HILLGER 28.04.2011, 17:26

Halle (Saale)/MZ. - Heinrich von Kleists wichtigster theoretischer Text "Über das Marionettentheater" mündet in die Erkenntnis, dass die vollendete Grazie entweder in einem Körper mit unendlichem oder mit gar keinem Bewusstsein zu finden sei - also in der Puppe oder in Gott. Am Ende von Gabriele Hänels bemerkenswerter Inszenierung des "Käthchen von Heilbronn" sind im Puschkin-Saal des halleschen Thalia-Theaters beide Aggregatzustände der Seele zu erleben - die Automatenfigur der Kunigunde von Thurneck und der als Diener Gottschalk verkleidete Cherubim. Die wahre Grazie aber behauptet sich in einer dritten Gestalt: dem traumverloren schönen Mädchen, das plötzlich die Tochter eines Kaisers und die Braut eines Ritters ist.

Engel auf Stelzen

Es ist eine erstaunliche Leistung, dieses schier unerschöpfliche Drama für junge Zuschauer von heute zu erzählen und dabei weder den roten Faden noch die Poesie Kleists aus dem Blick zu verlieren. Gabriele Hänel glückt das in zwei kurzweiligen Stunden, in denen nur gelegentlich Lautstärke mit Intensität verwechselt wird.

Das unübersichtliche Personal wird verknappt und die höchste mit der niedrigsten Figur verknüpft: Der Engel, der zunächst auf Stelzen jenen Traum verkündet, in dem sich die Tochter des Waffenschmieds und der Graf Wetter vom Strahl begegnen, erscheint wenig später als Knecht des Ritters. Im Hintergrund malt sich der Köhlerjunge Isaak die Welt aus - aus der Hütte wird ein Haus wird ein Kloster wird ein Schloss. Und links wächst der Holunderbusch, in dem das Käthchen seine Zuflucht findet - mehr braucht Knut Hirche nicht, um einen atmosphärisch stimmigen Bühnenraum zu entwickeln.

Klemens Kühns Kostüme übersetzen die Wappenschilde historischer Rüstungen in moderne T-Shirt-Piktogramme - so, wie es überhaupt gelingt, in kurzen Momenten das romantisch gezeichnete Mittelalter in die Gegenwart zu öffnen. Da vermutet das Femegericht Drogen als Ursache für Käthchens Fanatismus, da wird aus der monströsen Kunigunde eine moderne Mensch-Maschine - und da darf man die Eskalation des Konfliktes auch schon mal "voll krass" finden. Der Kern der Geschichte wird nicht angetastet, sondern als zeitloses Beispiel für die elementare Kraft der Liebe erzählt - was bei der morgendlichen Premiere auch die jungen Zuschauer fesselt.

Das Thalia-Ensemble wirft sich nach den kräftezehrenden Auseinandersetzungen der letzten Monate mit vollem Elan in die große Aufgabe. Florian Schmiemanns Gottschalk ist ein Engel, der über sich selbst lachen kann - und der die Handlung dennoch mit heiligem Ernst vorantreibt. Als Graf vom Strahl zeigt Jörg Kunze die Kraft und Arroganz, aber auch die Erschütterbarkeit des jungen Adligen. Mit Frank Schilcher und Florian Ulrich Stauch sind auch seine Mit- und Gegenspieler, die Herren von Freiburg und von Waldstätten, bestens besetzt - langhaarige Krieger, die auf ihren imaginären Pferden wie die Ritter der Kokosnuss galoppieren.

Warten auf ein Wunder

Enrico Petters gibt den Waffenschmied Friedborn die ganze ohnmächtige Wut und Liebe des hilflosen Vaters, Axel Gärtner gebärdet sich als Gräfin vom Strahl wie die Queen Mum - und Harald Höbinger legt in seine kleine Rolle als Kaiser großes Gewicht. Mit Justus Verdenhalven stellt sich als Isaak zudem ein Neuzugang vor, dessen naive Fröhlichkeit ein Identifikationsangebot für die jungen Zuschauer liefert. Im Zentrum aber stehen zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher kaum zu denken sind: Einerseits die berechnende und zugleich ferngesteuerte Kunigunde der Louise Nowitzki, die mit ihren blinkenden Ringen und mit ihrer puppenhaften Schönheit aus "Hoffmanns Erzählungen" entsprungen scheint. Und andererseits das süße, natürliche Käthchen, das Christina Papst zwischen verliebter Träumerei und schrecklichem Erwachen zeichnet. Ihr glaubt man die Bedingungs- und Voraussetzungslosigkeit ihrer Gefühle ebenso wie die Gewissensnot, aus der sie tatsächlich nur ein Wunder erlösen kann.

Das aber geschieht - wie bei Kleist so auch in der Fassung von Gabriele Hänel. So zeigt das Thalia im 200. Todesjahr des Dichters, dass ein hoher ästhetischer Anspruch nicht unbedingt an der Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen vorbeigehen muss.

Nächste Vorstellungen: Am Freitag sowie am 7. Juni, jeweils 10 Uhr