1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Streitgespräch zwischen Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer: Streitgespräch zwischen Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer: Zwei die über Grenzen gehen

Streitgespräch zwischen Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer Streitgespräch zwischen Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer: Zwei die über Grenzen gehen

Von Markus Decker 09.03.2015, 16:13

Halle (Saale) - Ab Seite 191 wird Friedrich Schorlemmer etwas unangenehm. Da nennt der Pfarrer aus Wittenberg den Linksfraktionsvorsitzenden Gregor Gysi - seine Freunde zitierend - „ein Schlitzohr“ und reibt ihm den Verdacht unter die Nase, „in der Zusammenarbeit mit der Stasi möglicherweise Grenzen überschritten“ zu haben. Auf Gysis Antwort: „Glauben Sie wirklich, ich hätte mich 1989/90 derart in Position gebracht?“ erwidert Schorlemmer: „Böse Zungen würden jetzt sagen: Böhme und Schnur haben’s auch gemacht.“ Die Vorsitzenden der SDP und des Demokratischen Aufbruchs, Ibrahim Böhme und Wolfgang Schnur, hatten bekanntlich ellenlange IM-Akten.

Hans-Dieter Schütt, von 1984 bis 1989 Chefredakteur des FDJ-Organs „Junge Welt“ und heute Feuilletonist beim „Neuen Deutschland“, hat Schorlemmer und Gysi in ein 289-seitiges Gespräch verwickelt und es unter dem Titel „Was bleiben wird“ als Buch herausgebracht. Es ist ein interessantes und lesenswertes Buch geworden.

Schütt, ein begnadeter und was die DDR-Vergangenheit betrifft reumütiger Schreiber, will das Gespräch als „eine gemeinsam suchende Bewegung“ führen. Den Anspruch löst das Buch ein. Warum gerade Schorlemmer und Gysi aufeinander treffen, wird rasch klar. Schorlemmer attestiert Gysi Glaubwürdigkeit. Dieser bedankt sich angesichts der Zeit davor mit den seltsam ambivalenten Worten: „Schorlemmers Stärke zeigte sich darin, dass der Staat es nicht wagte, ihn einzusperren - das musstest du dir erst mal erarbeiten.“

„Am Ende war das nur noch ein Schutthaufen“

Die beiden unterhalten sich mit bemerkenswerter Tiefe über den zweiten deutschen Staat und dessen Scheitern. Als eine zentrale Ursache erscheint die Verhärtung der Kommunisten im antifaschistischen Widerstand, der sie unempfindlich machte für das Wollen der Menschen. Freilich sind die Widersprüche nicht zu übersehen. So sagt Schorlemmer recht unerbittlich über die SED: „Am Ende war das nur noch ein Schutthaufen, der Blech redete und Schrott zu bieten hatte.“ Andererseits tut er kund: „Ich bestehe für mein Denken und Fühlen auf bestimmten Ideen, die mit der Existenz dieses Systems verbunden waren und mit dessen Verschwinden nicht aus der Welt sind.“

Derweil bleibt das Bild Gysis schwankend. Er sagt von sich: „Ich habe kein Recht, mich als Widerständler zu gerieren.“ Später lässt er jedoch mit Blick auf seine Anwaltstätigkeit mit breiter Brust wissen: „Nee, da werf ich mir nüscht vor, und deshalb gehe ich gegen Stasi-Beschuldigungen auch immer wieder vor – und wie man sieht: erfolgreich.“ Der befangene Schütt setzt nicht nach. Schorlemmer attestiert seinem Gegenüber „die frühe Raffinesse, nicht zu lügen, aber auch nicht die ganze Wahrheit zu sagen“. Auch wenn Schorlemmer seinem Gysi also trotz Glaubwürdigkeits-Attest nicht alles zu glauben scheint: Letztlich sind sie einander verbunden. Schorlemmer, der in seinem Pfarrhaushalt nach dem Krieg Hunger litt, zeigt sich als demokratischer Sozialist, den von der Linkspartei nur „dieser Parteianteil an sturen, freudlosen westdeutschen Klassenkämpfern“ trennt, die alten Ost-Kader mithin nicht. Gysi, dessen Mutter mit Gustav Stresemann Tennis spielte, konstatiert mit der ihm eigenen inneren Weite, dass der Kapitalismus eben „auch eine Menge“ könne, und befindet: „Eine gottlose Gesellschaft wäre verhängnisvoll.“

Hier gehen beide über Grenzen. Und treffen sich jenseits davon. (mz)