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Stiftung Moritzburg Stiftung Moritzburg: Die Nackten und ihre Namen

Von ANDREAS HILLGER 18.02.2011, 18:35

Halle (Saale)/MZ. - Manchmal nimmt die Kunstgeschichte seltsame Umwege, um ihre Chronisten an das ersehnte Ziel zu führen: Als Jochen Sprentzel im Sommer des vergangenen Jahres einen "Spiegel"-Artikel unter der Überschrift "Kirchners Lolitas" las, stolperte er über die letzten Sätze der Ankündigung: "Im Taufregister von Dresden fand sich jetzt allerdings immerhin eine Marcella Sprentzel, geboren 1895. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es sich bei ihr um Kirchners späteres Modell handelt." Der Journalist, der jahrelang die Sportabteilungen beim SFB und später beim RBB geleitet hatte, war elektrisiert: Der Nachname in dieser seltenen Schreibweise legte eine direkte Beziehung zu seiner eigenen Familie nahe. Und war da nicht irgendwo im Haus noch ein Stammbaum?

Fokus auf die Vorbilder

Als Sprentzel am Freitag die Ausstellung "Der Blick auf Fränzi und Marcella" im sachsen-anhaltischen Landeskunstmuseum Moritzburg in Halle besichtigte, war aus dem Verdacht längst eine Gewissheit geworden. Die von Norbert Nobis für das Sprengel-Museum Hannover kuratierte Schau hat nicht nur den Fokus auf die beiden Mädchen gelenkt, die den "Brücke"-Malern Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Hermann Max Pechstein in den Jahren 1909 bis 1911 als Aktmodelle gedient hatten. Sie hat zudem einen Kronzeugen zu Tage gefördert, der seit dieser Entdeckung Nachforschungen über die Nichte seines Urgroßvaters anstellt. Dass der 67-Jährige ein Medienprofi ist, zeigt sich nicht zuletzt am sparsamen Umgang mit seinen Recherche-Ergebnissen: Vor einer Veröffentlichung will er sich nicht in die Karten gucken lassen, die Deutungshoheit bleibt vorerst noch bei ihm. Nur soviel: "Wir wissen von Marcellas Geburt bis zu ihrem Tod jetzt 100 Prozent mehr."

Wie schwierig die Spurensuche im Fall von Fränzi und Marcella war, bestätigt auch Katalog-Autor Gerd Presler: Jahrzehntelang hielt sich Pechsteins Behauptung, es habe sich bei den Mädchen um die "Töchter einer Artistenwitwe" gehandelt. Einige "Brücke"-Experten vertraten sogar die Auffassung, dass es sich bei beiden Modellen um ein und dieselbe Person handelte. Erst neuere Forschungen wiesen den Weg zu den Dresdner Mädchen Lina Franziska Fehrmann und Marcella Albertine Olga Sprentzel, die nicht verwandt und zum Zeitpunkt der ersten überlieferten Darstellungen neun beziehungsweise 14 Jahre alt waren. Doch während im Falle von Fränzi ein Foto nun genauere Zuordnungen - und vor allem den Vergleich zwischen dem natürlichen Vorbild und seiner künstlerischen Darstellung - ermöglicht hat, blieb die Suche nach ähnlichen Abbildungen in Marcellas Fall bislang erfolglos.

Entgrenzung des Aktes

Dass die Bildbetrachtung unter dem Aspekt ihrer Modelle gleichwohl neue Aufmerksamkeit für die Werke generiert, hat Kurator Nobis festgestellt: Die "Entgrenzung des weiblichen Aktes nach vorn, in die Zeit der Pubertät" sei ein Prozess, bei dem sich die Frage nach der biografischen Situation in besonderer Weise stelle - auch deshalb, weil man natürlich über die erwachende Sexualität der Mädchen und die Motivation ihrer Maler in besonderer Weise reflektieren müsse. Zwar sei die Tabuisierung solcher Darstellung das Ergebnis einer Diskussion, die erst in jüngster Zeit eingesetzt habe, fügt Presler hinzu. Aber wie leicht sich solche Reflexe auch medial einsetzen ließen, habe ja nicht zuletzt der "Lolita"-Artikel im "Spiegel" gezeigt, dem man nun offenbar neue Erkenntnisse für Marcellas Leben verdankt.

In der Schau, die den hauseigenen Bestand der Sammlung Gerlinger mit wertvollen Leihgaben verbindet, fallen neben den nackten Leibern in Ateliers und an den Moritzburger Seen auch die Zuschreibungen ins Auge. Hier haben die Vergleiche mit der Fotografie bereits einige Korrekturen nach sich gezogen. So wurde Ernst Ludwig Kirchners Gemälde "Artistin; Marcella" inzwischen als "Fränzi mit Katze" identifiziert, während auf anderen Bildern beide Mädchen gemeinsam zu sehen sind. Ob man dem Porträtfoto von Fränzi bald auch ein Pendant Marcellas zur Seite stellen und ihren bislang mit einem Adresseintrag von 1912 endenden Lebenslauf um die fehlenden Daten ergänzen kann, bleibt abzuwarten. Dann würde endlich die konkrete Person wieder greifbarer werden, die in den Bildern ohnehin kunsthistorische Unsterblichkeit erlangt hat.

Ausstellung bis zum 1. Mai, Di 10-19, Mi-So 10-18 Uhr