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Sprache Sprache: Wortwarte sammelt neue deutsche Wörter im Internet

Von Arno Schütze 09.12.2005, 14:53
Der Tübinger Linguist Lothar Lemnitzer, aufgenommen in seinem Büro an der Universität Tübingen. (Foto: dpa)
Der Tübinger Linguist Lothar Lemnitzer, aufgenommen in seinem Büro an der Universität Tübingen. (Foto: dpa) dpa

Tübingen/dpa. - Um das zu vermeiden, hätte der Egosurfer mitUnterleibsturbo vielleicht mehr in weiche Werte wie Chatiquette undEssthetik investieren oder zumindest seinen Prickelfaktor in SachenWortschatz aufpushen sollen. Bei der «Wortwarte» des TübingerLinguisten Lothar Lemnitzer hätte er dazu Gelegenheit gehabt. Seitfünf Jahren sammelt der Sprachforscher neue Wörter - auch im Diensteder Wissenschaft.

Eine an Lemnitzers Institut entwickelte Software durchkämmt jedenTag das Online-Angebot zahlreicher deutscher Medien. Von deninsgesamt rund eine Million dabei erfassten Wörtern, spuckt dasProgramm am Tag rund 2000 bis 3000 unbekannte aus. «Die gehe ich dannhändisch durch», sagt Lemnitzer. Neben zahlreichen Tippfehlern sindmeist ein Dutzend neue Wörter sind dabei, die er auf seinerInternetseite www.wortwarte.de veröffentlicht.

Der Boah-geil-ey-Faktor angesichts von Begriffen wie Pattex-Kanzler, Bierdeckelsteuer, Eurodermitis, Hartz-IV-Simulant oderMentaliban stellt sich nur gelegentlich ein. Den solch sprachlichesPolittainment ist deutlich seltener als Phisher (Bankpasswort-Dieb)und Grabber (Domain-Klauer), sprich Wörter aus den Bereichen Internetund Telekommunikation. «Handy-Tarifmodelle sind eine besondersergiebige Quelle für neue Wörter», sagt Lemnitzer. Gerade bei ihnenhäufen sich «verdenglischte» Wörter (Anglizismen). Anleihen ausanderen Sprachen sind selten, zu den wenigen Beispielen gehören«Kanax-brack» für gerade noch verständliches Türk-Deutsch oder deraus Frankreich übernommene «Bo-Bo» für den bourgeoisen Bohemien.

Begriffe wie Simsen für SMS verschicken oder Podcasting für dasAngebot einer Art privaten Radioshow im Internet werden sich nachLemnitzers Überzeugung im Sprachgebrauch durchsetzen. Hingegen sindWörter wie M-Commerce für den Handel via Handy oder Dotflopp fürgescheiterte Internetfirmen zu sehr mit ihrer Zeit verbunden unddaher wohl bald ebenso vergessen wie Bohlens Teppichluder oder derMilleniumstress. «Die Wortwarte ist zwar eine schöne Sache, aber fürdie wissenschaftliche Forschung nur von begrenztem Nutze, weil zuviele Wörter darunter sind, die nur einmal und dann nie wiederauftauchen», kritisiert Doris Steffens vom Mannheimer Institut fürDeutsche Sprache. Das kümmert Lemnitzer wenig. «Die Eintagsfliegensind doch oft die schönsten unter den Wortspielereien.»

Für seine Nutzer definiert Lemnitzer weder selbst, was einStandarddummchen, ein Körbchengrößendiskutierer oder ein Edelrentnerist, noch wie man sich die Caffè-latte-Generation, Fußumpuschelungoder den Antiterrorrabatt vorzustellen hat. Um einer Nörgelspiraleentnervter Leser aber vorzubeugen, führt ein Link zu den Textpassagenim Internet, aus denen sich dann ergibt, dass verpusemantuckeln soetwas wie essen sein muss und ein Papier-Spammer wohl unerwünschteWerbebriefe verschickt.

Rund 20 000 oft gefundene Wörter hat Lemnitzer bereits auf seinerSeite gesammelt, und das nicht nur, um etwa über den «Kukucksfaktor»fremd gehender Frauen zu schmunzeln. «Das Projekt ist Teil derForschung an texttechnologischen Methoden», sagt der Wissenschaftler.Mit Hilfe der Wortlisten sollen typische Wortreihungen erarbeitetwerden, die wiederum von Computerprogrammen verwendet werden, um ausTexten Zusammenfassungen zu generieren. «Das Finden von relevantenTextstücken funktioniert heute schon ganz gut.»