Ignoranz und Verachtung Sinti und Roma in Deutschland

Minden - Der Mann hat einen Händedruck, dem man erst mal standhalten muss. Oswald Marschall aus Minden in Westfalen, 61 Jahre alt, hat als junger Mann geboxt. In den 70er Jahren gehörte er der deutschen Nationalmannschaft an. Im Sport hat Marschall eine Chance gesehen und genutzt - eine Chance, die er auf anderem Gebiet zunächst nicht hatte. Denn er gehört der immer noch benachteiligten ethnischen Minderheit der Sinti und Roma an, rund 140 000 von ihnen leben in Deutschland, zwölf Millionen sind es in Europa.
Unlängst wurde im Auswärtigen Amt in Berlin ein Europäisches Kulturzentrum offiziell begründet, das im Herbst seine Arbeit aufnehmen und dazu beitragen soll, die beschämende Ignoranz und teils auch Verachtung, die den Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe zumal in Deutschland, aber auch sonst fast überall in Europa entgegengebracht wird, zumal im Südosten.
Nur ein kleiner Fortschritt
50 Prozent der deutschen Mehrheitsbevölkerung lehnen es jüngeren Umfragen zufolge ab, mit Sinti und Roma zusammenzuarbeiten. Und ebenso viele Deutsche wollen sie nicht als Nachbarn haben. „Zigeuner“ sagt heute niemand mehr, jedenfalls nicht laut. Aber das ist ein vergleichsweise kleiner Fortschritt, der obendrein wohl mehr mit politischer Korrektheit als mit der Einsicht zu tun hat, das jedem Menschen Respekt gebührt, gleich welcher ethnischen Herkunft oder Religionszugehörigkeit er auch sei.
Woher aber rühren die tief sitzenden, diffusen Vorurteile gegen Menschen, die zu den größten Opfergruppen des von den Nationalsozialisten geplanten und verübten Holocaust gehören? Schätzungsweise 500 000 Sinti und Roma sind in den Vernichtungslagern umgekommen.
Oswald Marschall erinnert an eine der Legenden, die über Sinti und Roma ebenso wie über die Juden seit Jahrhunderten in Umlauf sind - bis heute: „Zigeuner stehlen Kinder.“ Dies, so Marschall, geht auf die brachiale Assimilationspolitik zurück, die die österreichische Großherzogin Maria Theresia vor mehr als 250 Jahren betrieben hat.
Vieles liegt in der Hand der Medien
Sie wollte die Sinti und Roma sesshaft machen, deren Kinder sollten im christlich-abendländischen Sinne erzogen werden. Also nahm man sie ihren Familien fort und verbot ihnen sogar, ihre eigene Sprache zu sprechen. Als die Eltern ihre Kinder deshalb zurückholten, entstand die Erzählung vom Kindesraub.
Oswald Marschall sagt, vieles läge auch in der Hand der Medien. Wird über gelungene Integration, über Dialog und Miteinander berichtet, auch wenn Sinti und Roma eben anders sind als der Durchschnitt - oder machen Meldungen die Runde wie jene, dass es sich bei den meisten der Einwanderer etwa aus Rumänien und Bulgarien, die sich in Westeuropa wirtschaftlichen Vorteil versprechen, obendrein überwiegend um Sinti und Roma handele?
Dem widerspricht Marschall sehr entschieden, sie stellten nur einen geringen Prozentsatz dieser Gruppe dar. Aber hier ist man schnell in jenen Regionen der menschlichen Natur angelangt, wo Vorurteile und Ängste wie Unkraut wuchern und Blüten treiben. Rationalität hat hier wenig Platz. Und nur allzu gern ist man bereit, den Armutsflüchtlingen aus Ländern, die immerhin der EU angehören, alles Schlechte zuzutrauen. Gegenseitige Missverständnisse eingeschlossen. Und auch Fehlverhalten der „Anderen“, bei denen es, wie in allen Volksgruppen, natürlich schwarze Schafe gibt. Wenn es dann aber auch noch „Zigeuner“ sind! Hier schließt sich ein Kreis.
Besuche von Schulklassen um Vorurteile zu bekämpfen
Wie man ihn durchbrechen kann? Oswald Marschall, der in Minden gemeinsam mit seiner Frau Carmen den Verein Deutscher Sinti e.V. aufgebaut hat, sieht wie auch der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma in Deutschland, Romani Rose, vor allem eine Möglichkeit: Man muss das Gespräch suchen und auf die Menschen zugehen.
Nun könnte man fragen: Wieso sollen ausgerechnet die Nachkommen der Opfer und nicht die der Täter den ersten Schritt tun? Aber auch das geschieht ja schon, der Prozess ist langwierig und auch von Rückschlägen begleitet.
Doch eben auch von Erfolgen, wenn es gelingt, besonders junge Menschen anzusprechen und zunächst einmal ihre Neugier am Thema zu wecken. Oft spricht Oswald Marschall vor Schulklassen und versucht so, Brücken in die Gesellschaft zu bauen, von denen nicht zuletzt auch seine Enkelkinder profitieren werden. Darauf setzt er ganz fest.
Schulverbot für Sinti und Roma in Dritten Reich
Für Sinti und Roma, die als Opfer der NS-Gewaltherrschaft ähnlich wie die Homosexuellen und Deserteure lange Zeit gar keine Lobby, keine Fürsprache hatten, ist die Bewahrung ihres Leidens etwas Existenzielles. Wenn Oswald Marschall von seiner Familie und den Angehörigen seiner Frau erzählt, wird die Geschichte dann konkret.
Seine Eltern lebten in Minden, als die Nazis zur Macht gelangten. Das bedeutete in der mildesten Form Schulverbot für die Kinder der Sinti und Roma, später Zwangsarbeit. „Meine Eltern konnten deshalb kaum lesen und schreiben“, sagt Marschall. Das heißt aber auch: Sie konnten ihrem Sohn, als der 1961 eingeschult wurde, kaum helfen. Gute Startbedingungen und Chancengleichheit sehen anders aus.
Schicksal einer Familie
Verglichen mit dem Schicksal der Familie seiner Frau haben Oswald Marschalls Angehörige noch Glück gehabt, die meisten von ihnen hat man „nur“ diskriminiert und gedemütigt, aber bis auf einen Bruder seines Vaters, der wegen „Rassenschande“ mit seiner Verlobten ins Vernichtungslager gebracht wurde, sind sie mit dem Leben davon gekommen.
Carmen Marschalls Großeltern, Onkel und Tanten sind nach Auschwitz verschleppt worden, die meisten von ihnen wurden umgebracht. Auch ihr Vater war in Auschwitz. Er hatte in jener Nacht, als die Gestapo die Familie in Minden zur Deportation abholte, bei einem Freund übernachtet. Am nächsten Vormittag wurde er in der Schule verhaftet.
Jenen Lehrer, erzählt Marschall, der seinen Schwiegervater an die Geheimpolizei verraten hatte, sah der Mann bei der Einschulung seines Sohnes in Minden in den 60er Jahren wieder - in der Aula, auf dem Podium. Der immer noch in Amt und Würden war. Da riss der Vater, der sonst nur wenig über die Schrecken der NS-Zeit sprach und alles Leid in sich verschloss, sein Kind an sich, schrie und lief fort mit ihm.
„Das sind unsere Traumata. Sie werden auf die jüngeren Generationen vererbt. Und sie sitzen tief“, sagt Oswald Marschall. Aber er sagt auch, gerade in jüngster Zeit gebe es vermehrt Zeichen zum besseren gegenseitigen Verstehen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Sinti und Roma: „Das macht mir Mut für meine Arbeit.“ (mz)