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Sibylle Berg Sibylle Berg: Hänsel und Gretel im Ostblockhaus

Von Christian Eger 10.11.2006, 20:55

Halle/MZ. - Abgrenzungswut und Alltagsverachtung, Hingabe an Freundschaft, Trash und Fluchtphantasien: Alles ist drin in diesem Road-Movie im Tagebuchformat, das unter dem Titel "Habe ich dir eigentlich schon erzählt" ein "Märchen für alle" bietet.

Zu keiner Zeit stellt sich der Verdacht ein, noch einmal einem nachholenden Ost-Bekenntnisbüchlein ausgesetzt zu sein, so gegenwärtig und tatsächlich oft neu gesehen ist das hier Gezeigte. Sibylle Berg, die 1962 in Weimar geboren wurde, 1984 die DDR verließ und heute in der Schweiz lebt, hat als Erzählerin einen empfindlichen Sinn für das körperlich und seelisch Unmittelbare. Für die klirrenden Temperaturen in den Ost-Altbauwohnungen ("Es war eigentlich immer kalt"), die im Winter vor sich hin kokelnden Mülltonnen, die Schicht von Abgasen, die über den alten Städten hängt. "Hätte man eine gut geheizte Wohnung, aus der man auf die Stadt schauen würde, sähe das vielleicht sogar romantisch aus. Aber warme Wohnung ist nicht."

Das zu erklären, was im Umgangston "die DDR" heißt, ist nicht Sinn und Zweck dieses Erzählens. "Die DDR" steht bei Berg für einen nicht nur auf den ersten Blick ausweglosen psychosozialen Zustand, in dem sich die Figuren ihres Buches bewegen. Es ist der Zustand der vormundschaftlich ausgebremsten Jugend, der ersten Liebe und Ich-Behauptung. Der DDR-Staat hat seine Bürger ja stets wie Kinder gehalten, in einem Dauerzustand der Pubertät. Letztere ist kein Ost-Thema, lässt sich aber besonders sinnfällig im Ost-Rahmen ausmalen.

Anna und Max sind jeweils fast 14 Jahre alt: Sie ist die Tochter einer alleinstehenden Alkoholikerin, er der Sohn eines alleinstehenden Volkspolizisten. Die Szene ist eine Kleinstadt in Thüringen in den frühen 80er Jahren. Anna denkt über ihren Vornamen nach: "Es hätte auch schlimmer kommen können. Sehr viele in meiner Klasse heißen Peggy, Mandy oder Francise - auf Thüringisch klingt das dann wie: Fränzieeehse... Das tut weh." Und überhaupt: "Die Eltern in Thüringen, überhaupt im Osten, haben so eine Sehnsucht nach der großen weiten Welt, und die Kinder müssen das dann ausbaden mit ihren prima ausländischen Namen." Das sind beste Voraussetzungen für eine Jugend schärferer Gangart, die sich gegen die Gummiwelt der Eltern (sie "wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen") und die der Streber und NVA-Offiziersanwärter ("Vollidioten" und "Klugscheißer-Maschinen": "Sie sind nicht besonders schlau, aber laut und besserwisserisch") in den eigenen Jahrgangsreihen konturiert. So finden Anna und Max zueinander, um aus der Zonenwelt zu fliehen: über Böhmen, Ungarn und Rumänien, schließlich als Blinde Passagiere in einem Frachtschiff, das wohl - was letztlich offen bleibt - in Richtung Türkei ablegt. Hänsel und Gretel entwischen dem Ostblockhaus.

Bei aller punktuellen szenischen Bizarrerie, die sich die Autorin auch gestattet, ist dieses Büchlein ein Werk von typisch Bergscher Klarheit und Zärtlichkeit. Erste Freundschaft, erste Liebe, der erste Versuch, Leben ins Leben zu bringen, illustriert von Rita Ackermann und Andro Wekua. Ein DDR-Buch, das man auch in Japan versteht.