1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Serge Brammertz: Serge Brammertz: «Ich war nie so unabhängig»

Serge Brammertz Serge Brammertz: «Ich war nie so unabhängig»

05.08.2012, 16:55
Serge Brammertz ist belgischer Jurist und derzeitiger Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien. (FOTO: ARCHIV)
Serge Brammertz ist belgischer Jurist und derzeitiger Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien. (FOTO: ARCHIV) Archiv Lizenz

Halle (Saale)/MZ. - Wer den Sitz des Jugoslawien-Tribunals in Den Haag betreten will, muss mehrere Sicherheitsschleusen passieren. An den Eingängen stehen Körperscanner, darüber hinaus wird das schmucklose Gebäude am Churchillplein unweit des niederländischen Regierungssitzes von bewaffneten Beamten bewacht. Sie tragen die gleiche blaue Uniform wie ihre Kollegen im Hauptquartier der Vereinten Nationen am New Yorker East River. Die Sicherheitsleute in Holland sind ebenfalls Mitarbeiter der UN. "Voilà", begrüßt uns Serge Brammertz, belgischer Jurist und derzeitiger Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien. Der 50-Jährige ist ein hochgewachsener, sportlich wirkender Mann. "Schön, dass Sie da sind", sagt er und bittet galant in sein Büro, das er 2008 von seiner Vorgängerin, der Schweizerin Carla del Ponte, übernommen hat. In einer Vitrine sind Pokale und Urkunden aus seiner Heimatstadt Eupen sowie vom FBI und aus dem Libanon zu sehen. Allesamt Auszeichnungen für seine Verdienste im Kampf gegen das internationale Verbrechen - das große Lebensthema von Brammertz. Von seinem klobigen Schreibtisch aus schaut der Chefankläger auf großflächige, sehr farbintensive Porträts.

Das Gespräch führte Harald Biskup.

Herr Brammertz, im Büro eines sachlichen Juristen, als der Sie gemeinhin gelten, hätte man Regale mit Sammlungen von Gesetzestexten und Fachliteratur vermutet. Was fasziniert Sie an diesen großen Porträtbildern?

Brammertz: Kurz nachdem ich in Den Haag angefangen hatte, gab es hier eine vom Roten Kreuz organisierte Ausstellung mit Bildern eines italienischen Malers, die zusammen mit anderen Kunstgegenständen für einen guten Zweck versteigert wurden. Ich fand diese Bilder sehr beeindruckend und ausdrucksstark. Auf einem sind ein alter Mann und ein Kind zu sehen. Man erkennt an ihren Augen, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimmt. Die beiden sind Opfer von Kriegsverbrechen in Sierra Leone. Da habe ich mir gedacht, jetzt kombinierst du eine gute Tat mit etwas, was ich in seiner Schrecklichkeit schön finde. Es gab noch andere Bilder mit extremeren Darstellungen, die beispielsweise Menschen mit abgehackten Armen zeigten.

Die "Süddeutsche Zeitung" hat Sie als "Kavalier, der aus der Stille zuschlägt" bezeichnet. Was reizt Sie an diesem Job, bei dem sich vor allem Ihre Vorgängerin Carla del Ponte enormem Druck und auch Bedrohungen ausgesetzt sah?

Brammertz: Ganz sicher nicht mein angeblicher Jagdinstinkt, falls Sie darauf anspielen. Ich bin in Eupen, also nicht weit von der belgisch-deutschen Grenze, aufgewachsen. Das prägt. Denn mich hat schon früh die länderübergreifende Zusammenarbeit interessiert. Es fing sozusagen im Kleinen an. Und so ging es weiter: Als junger Staatsanwalt mit dem Aufgabenbereich "Organisiertes Verbrechen" musste ich mich dann in Brüssel mit den Kollegen der Flamen und Wallonen austauschen.

Sie sprechen fließend Englisch und Niederländisch und Französisch so gut wie ihre Muttersprache Deutsch.

Brammertz: Zu meiner Grundschulzeit gab es bei uns in Ostbelgien noch nicht genügend deutschsprachige Lehrer, was zur Folge hatte, dass Mathematik, Geografie und Geschichte auf Französisch gegeben wurden. Das war später ein Riesenvorteil.

Herr Brammertz, Carla del Ponte galt als resolut und ausgesprochen scharfzüngig - und wurde von ihren Gegnern regelrecht angefeindet. Sie bevorzugen die leiseren Töne. Glauben Sie, dass Sie so mehr erreichen?

Brammertz: Wer mich wegen meines Auftretens für sanftmütig oder gar nachgiebig hält, irrt sich.

Das heißt, hinter verschlossenen Türen reden Sie durchaus Klartext?

Brammertz: Ich kann in einem sehr netten Ton extrem kritisch sein, ohne dass mir jemand dafür böse ist.

Waren Sie mal auf der Diplomatenschule?

Brammertz: Nur auf der Diplomatenschule des Lebens. Ich habe einfach die Erfahrung gemacht, dass man mit freundlichen Umgangsformen viel weitergehen kann mit dem, was man sagt, als wenn man aggressiv an die Sache herangeht.

Also doch der Gentleman, der aus dem Verborgenen agiert?

Brammertz: Manche mögen das so nennen. Ich bin immer gut damit gefahren.

Sie haben geschafft, was Frau del Ponte nicht vergönnt war - Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, Radovan Karadzic und Ratko Mladic, die meistgesuchten mutmaßlichen Kriegsverbrecher auf dem Balkan, fangen und nach Den Haag bringen zu lassen. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie den beiden zum ersten Mal gegenüber saßen? Haben Sie innerlich triumphiert?

Brammertz: Selbst wenn ich Triumph verspürt hätte, würde ich mir das nie anmerken lassen, schon gar nicht gegenüber Beschuldigten. Bei allen Dramen und Katastrophen, die man in diesem Job mitbekommt, versuche ich immer, eine gewisse Distanz zu wahren. Insofern sind auch Karadzic und Mladic zunächst einmal Beschuldigte wie alle anderen. Aber ich will nicht bestreiten, dass ihre Festnahme schon eine gewisse Befriedigung für mich bedeutet hat. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich von ihrer Verhaftung erfuhr: Da kamen bei mir sofort die Erinnerungen an all die Opfer wieder hoch. Ich habe sicher ein Dutzend Mal Vertreter von Opferverbänden getroffen, darunter die Vorsitzende der Vereinigung "Mütter von Srebrenica". Sie allein hat bei dem Massaker 32 männliche Mitglieder ihrer Familie verloren. Ihren Mann, ihren Vater, Söhne, Neffen. Von einem ihrer Söhne hat man die Leiche bis heute nicht gefunden. Für viele Politiker und Diplomaten sind diese Gräueltaten inzwischen Verbrechen aus der Vergangenheit. Für die Opfer dagegen hat mit diesen Taten ihr bis dahin geführtes Leben aufgehört zu existieren.

Wie wichtig war bei der Zusammenarbeit mit Belgrad, dass Sie sozusagen als Morgengabe mit dem Eintritt in die EU locken konnten?

Brammertz: Das hat auch schon meine Vorgängerin gemacht. Es gab immer einen Zusammenhang zwischen der "vollständigen Zusammenarbeit" mit dem Haager Strafgerichtshof und der Aussicht auf eine EU-Erweiterung. Ich habe in meinen viereinhalb Jahren in diesem Job gelernt, dass nur der stetige Druck der EU auf Belgrad letztendlich zum Erfolg geführt hat. Der Wille zum EU-Beitritt war am Ende größer als der Wunsch, die eigenen, sogenannten Kriegshelden zu schützen.

Wie muss man sich Ihre Mitwirkung an der Jagd auf Karadzic und Mladic vorstellen?

Brammertz: Auf der operativen Ebene, die ja lange mein Geschäft war, haben wir mehr als in der Vergangenheit dafür gesorgt, dass wir so nahe wie möglich an den nationalen Ermittlungen dran sind. Für die eigentliche Suche waren natürlich die Serben zuständig. Aber ich hatte ständig Leute vor Ort, die, wenn nicht jedes Mal in Echtzeit, so doch immer sehr zeitnah auf dem Laufenden waren. Ich war im Schnitt dreimal im Jahr in Belgrad, um mich mit den serbischen Ermittlern auszutauschen.

Kamen Sie sich da nicht vor wie der ungeliebte Gast, den man am liebsten schnell wieder loswerden wollte?

Brammertz: Ich habe zu allen Verantwortlichen bis zum Sicherheitsberater des damaligen Präsidenten ein sehr kollegiales Verhältnis aufbauen können. Es war nicht wie früher, dass die UN etwas erzwingen wollten, alle zogen am gleichen Strang.

Wie wichtig ist es für Sie persönlich, dass Karadzic und Mladic durch Ihre Mitwirkung ihrer "gerechten Strafe zugeführt" werden?

Brammertz: Die öffentliche Meinung ist immer auf diese beiden fokussiert, obwohl es in Den Haag auch Dutzende andere schreckliche Kriegsverbrecher gibt, die wir angeklagt haben. Voilà, ich erinnere mich gut, wie ich vor den Vereinten Nationen erklärt habe: "Wenn wir es nicht schaffen, die beiden endlich zu kriegen, wird das ein ganz schwarzes Kapitel." Beide sind Symbolfiguren: Karadzic als Architekt der "ethnischen Säuberungen", Mladic als seine rechte Hand. Wir wissen noch nicht, wer die Helfershelfer waren, die es ermöglicht haben, dass Mladic, obwohl er zwölf Jahre untergetaucht war und mit internationalem Haftbefehl gesucht wurde, gleichzeitig Standing Ovations in serbischen Fußballstadien bekam.

Der neue serbische Präsident Tomislav Nikolic hat nun kürzlich bestritten, dass in Srebrenica ein Völkermord sattgefunden hat.

Brammertz: Das ist nicht nur unverantwortlich und ein Schritt zurück, sondern auch ein Schlag ins Gesicht der Opfer. Dagegen habe ich mich im Weltsicherheitsrat sehr deutlich verwahrt.

Sie haben große Handlungsfreiheit.

Brammertz: Ja, absolut. Manchmal werde ich zwar gefragt: "Ist das nicht eine Funktion, in der du Druck bekommst und beeinflusst wirst?". Aber, ich war eigentlich noch nie so unabhängig.

Ist im Karadzic-Prozess, der schon seit Ende Oktober 2009 läuft, ein Ende abzusehen?

Brammertz: Die Verfahren in Den Haag sind umfangreich und langwierig, und es gilt das angelsächsische Prozessrecht. Das bedeutet, dass im Prinzip alle Beweismittel im Verfahren noch einmal präsentiert werden müssen. Die Anklage ist sehr komplex. Sie umfasst drei Jahre der "ethnischen Säuberungen" in Bosnien, drei Jahre Belagerung von Sarajevo und die Gräueltaten von Srebrenica. Im Karadzic-Prozess ist die Beweisaufnahme abgeschlossen, im Oktober wird die Verteidigung ihre Sicht der Dinge präsentieren. Das kann bis zu einem Jahr dauern, so dass bis 2014 mit einem Urteil zu rechnen ist. Bei Mladic geht die Beweisaufnahme nach der Sommerpause in die entscheidende Phase.

Wenn Sie nicht gerade unterwegs sind, Gespräche in Brüssel führen oder UN-Gremien in New York informieren - wie sieht ein halbwegs normaler Tag des Chefanklägers aus?

Brammertz: Wie jeden Morgen gab es heute eine Besprechung mit meinem Senior Management. Das sind die 15 Staatsanwälte, die eines der sieben noch laufenden Verfahren leiten. Wir sprechen über Zeugen und Strategien, dadurch bin ich immer à jour. Darüber hinaus sagen sich jede Woche Botschafter bei mir zu Besuchen an. Heute früh war der neue rumänische Vertreter bei mir.

Halten Sie die Unabhängigkeit des Kosovo von heute aus betrachtet für eine weise Entscheidung der internationalen Politik?

Brammertz: Sehen Sie, jetzt kommt meine Zurückhaltung zum Vorschein, die mich in manchen Augen zur grauen Eminenz macht. Es gehört nicht zu meinem Aufgabenbereich, zu dieser politischen Frage eine offizielle Meinung zu haben.

Welche Beziehung hat denn der Privatmann Serge Brammertz, als Besucher, zu jener Region entwickelt, die in den Nachrichten nur noch "Rest-Jugoslawien" hieß, so als solle da ein Staat verscherbelt werden?

Brammertz: Ich habe während meines Studiums in meiner Heimatstadt Eupen gekellnert, und einer meiner Kellner-Kollegen war Jugoslawe. Mit ihm bin ich dann auch mal in der Region gewesen. Belgrad, Split, Dubrovnik. Ich hätte mir damals nicht vorstellen können, dass meine Generation dort nochmal einen Krieg erlebt - mitten in Europa. Und natürlich noch viel weniger, dass ich mal eine Mitverantwortung für die Aufarbeitung dieser Kriegsverbrechen tragen würde. Wenn ich aber sehe, wie die jungen Juristen aus Kroatien, Bosnien und Serbien hier bei uns in Den Haag miteinander umgehen, stimmt mich das optimistisch für die Zukunft.

In der Öffentlichkeit hat sich der Eindruck verfestigt, der Haager Strafgerichtshof sei in erster Linie ein Anti-Serbien-Tribunal. Eine böse Verdrehung?

Brammertz: Ich finde diesen Eindruck falsch. Wir sind nur in einer Hinsicht "anti": Wir sind anti Kriegsverbrechen und pro Opfer. Aber es stimmt natürlich, dass es sich bei der großen Mehrheit der Beschuldigten um Serben handelt. Einige der schlimmsten Verbrechen sind eben von Serben begangen worden, sie waren die weitaus stärkste militärische Kraft. Aber es hat auch Verfahren mit hohen Haftstrafen gegen Angeklagte der beiden anderen Volksgruppen gegeben. Ich kann aber ganz klar sagen: Die Fälle, in denen es zur Anklage gekommen ist, sind repräsentativ für das, was im Krieg passiert ist.

Wie sieht Ihre vorläufige Bilanz aus?

Brammertz: Wir haben seit Bestehen des Tribunals 161 Anklagen erhoben, mehr als alle anderen internationalen Gerichte zusammen. Wir haben als einziges internationales Gericht keine Flüchtigen mehr.

Herr Brammertz, wie schaffen Sie es, den immensen Druck, der mit Ihrer Aufgabe verbunden ist, zu verarbeiten?

Brammertz: Nach Möglichkeit gönne ich mir vor der Arbeit eine Runde Joggen und ich habe mir jetzt auch ein Mountainbike zugelegt. Ich wohne nicht weit vom Strand.

Und die Wochenenden?

Brammertz: Wenn es zeitlich klappt, fahre ich nach Brüssel, wo die meisten meiner Freunde wohnen. Ab und zu auch nach Eupen, wo meine Mutter, Geschwister, Nichten und Neffen leben.

Die finden den Job des Onkels vermutlich ziemlich cool.

Brammertz: Ich denke schon.