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Sehnsucht nach Willy Sehnsucht nach Willy: Ein Buch von 1940 zeigt, warum Brandt bis heute verehrt wird

Von Andreas Montag 27.09.2018, 10:00
Warschau, 1970: Willy Brandts historischer Kniefall als Geste der Demut vor den Opfern der NS-Herrschaft
Warschau, 1970: Willy Brandts historischer Kniefall als Geste der Demut vor den Opfern der NS-Herrschaft dpa

Halle (Saale) - Wenn man sich einen neuen Brandt nur backen könnte, hört man es im Genossen- und Unterstützerkreis der Sozialdemokraten öfter seufzen. Und vernehmlicher als zuvor, seit die ungeschickt und glücklos agierenden Berufsfunktionärin Andrea Nahles den SPD-Vorsitz inne hat - mit immer noch sinkenden Umfragewerten im Rücken.

Von Martin Schulz, dem zu kurz gesprungenen Supermann, redet ohnehin schon niemand mehr. Der Vorschuss hundertprozentiger Zustimmung, der ihm geschenkt worden war, ist schneller aufgebraucht gewesen als hernach das beflissene Vergessen dieser Peinlichkeit in der SPD gedauert hat.

Willy Brandt war nicht frei von Fehlern

Mit Willy, wie er auch von Nicht-Parteimitgliedern über seinen Tod am 8. Oktober 1992 hinaus familiär, ja liebevoll genannt wird, wäre so viel Stückwerk wie bei seinen Nachfolgern dieser Tage üblich sicher nicht passiert.

Dabei hat der am 18. Dezember 1913 als Herbert Ernst Karl Frahm in Lübeck geborene uneheliche Sohn einer Verkäuferin freilich auch Fehler gemacht. Sie sind verziehen. In Liebesdingen lief es nicht immer geradeaus bei ihm. Und dass er als Bundeskanzler dem Stasi-Mann Günter Guillaume sein Vertrauen schenkte, hat ihn politisch erledigt.

Hier hatten die Ostberliner Herren allerdings einen gewaltigen Bock geschossen: Wem es nützen sollte, Brandt zu Fall zu bringen, erschließt sich einem verständigen Menschen nicht. Es sei denn, der charismatische Visionär und Patriot, der die deutsche Einheit über seiner pragmatischen Entspannungspolitik nie aus den Augen verlor, wäre den Honeckers und Mielkes immer unheimlicher geworden. Brandt stand für jene Wahrheit und Klarheit, die sich (und anderen) die quasireligiösen Post-Stalinisten aus Parteiräson verboten hatten.

Sehnsucht nach Willy Brandt lebt bis heute fort

Vor dieser ostdeutschen Kulisse wirkte der Sozialdemokrat und untadelige Antifaschist wie das fleischgewordene Gegenprogramm. „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ versprach er am 28. Oktober 1969 in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag in Bonn. Ein Gänsehaut-Satz, den sich die Deutschen in West wie Ost merkten. Die Sehnsucht nach Willy lebt auch deshalb in den Herzen vieler Menschen fort.

Dieser Tage bekommen diese Sympathisanten frisches Futter. Nicht nur aus dem SPD-Devotionalien-Shop, wo man Pullover, Anstecker und Kaffeetassen mit dem nostalgischen Wahlkampfslogan „Willy wählen“ kaufen kann.

Neues Buch über Willy Brandt - schon 1940 gedruckt

Im Dietz-Verlag ist ein Band mit Texten von Willy Brandt erschienen, der in doppelter Hinsicht bemerkenswert ist. Dieses Buch kommt erstmals überhaupt auf den Markt, obwohl es schon 1940 in Norwegen gedruckt worden war, wo Brandt im Exil lebte. Die Besetzung des Landes durch die Wehrmacht vereitelte die Verbreitung.

Zweitens, und das ist das Entscheidende: „Die Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa“ zeigt den Autor als scharfen Denker. Der noch nicht 30-jährige politische Flüchtling besaß die Kraft, von der Analyse des Ersten und des begonnenen Zweiten Weltkrieges aus eine Perspektive für eine friedliche Zukunft zu entwerfen - immer auch mit dem Blick auf die einfachen Menschen, die die größte Last jedes Krieges zu tragen haben.

Wenn Brandt Rosa Luxemburg zitiert, die während des Ersten Weltkrieges, der ja der Beginn des maschinenmäßigen Abschlachtens war, weist dies bis in die Gegenwart: „Noch ein solcher Weltkrieg, und die Aussichten des Sozialismus sind unter den von der imperialistischen Barbarei aufgetürmten Trümmern begraben.“

Kein Gedanke an Stalinismus bei Willy Brandt

Wobei die 1919 ermordete Luxemburg nicht einen „Sozialismus“ stalinistischer Prägung im Sinn hatte, auch wenn dessen Vollstrecker sich später auf sie beriefen. Und Brandt, der früh SPD-Mitglied geworden war, zeitweilig der weiter links stehenden Sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (SAPD) angehört hatte und 1944 zur SPD zurückkehrte, blickt nach Kriegsbeginn voraus: „Der kommende Frieden wird nicht allein durch Zeitungsartikel, Bücher und öffentliche Diskussion geschaffen werden. Ihn werden die gesellschaftlichen Machtverhältnisse bei Kriegsende bestimmen.“

Als ob er den Kalten Krieg und den Eisernen Vorhang geahnt hätte! Gegen den er dann etwas Überzeugendes tat. Mit seinem berühmten Kniefall von 1970 vor dem Ehrenmal für die Opfer des Warschauer Ghettos hat er, selbst ein Verfolgter, um Vergebung für die Deutschen und die Verbrechen des NS-Staates gebeten. Eine Geste der Demut, die nur zu Recht ein Jahr später mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden ist. Und die in der deutschen Politik ihresgleichen sucht.

Willy Brandt: Die Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa, Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn, 148 Seiten, 18 Euro

(mz)

1971, Oslo: Bundeskanzler Willy Brandt erhält den Friedensnobelpreis.
1971, Oslo: Bundeskanzler Willy Brandt erhält den Friedensnobelpreis.
dpa
Brandt im Exil, 1933
Brandt im Exil, 1933
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