Schriftsteller Stephan Hermlin Schriftsteller Stephan Hermlin : Hardliner und Liberaler
Halle (Saale) - Das letzte Mal geriet Stephan Hermlin 1996 in die Schlagzeilen. Und das in einem Maße wie nie zuvor. In einem Zeitungs-Vorabdruck veröffentlichte der hessische Rundfunkredakteur Carl Corino seine Recherchen zur Biografie des Schriftstellers, der zu den großen kulturellen Autoritäten der DDR gehörte. Der Journalist belegte, dass der heute vor 100 Jahren in Chemnitz als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geborene Autor und Kommunist seine private und politische Geschichte nicht einfach nur geschönt, sondern, dass er es zugelassen, ja befördert hatte, dass diese Umdeutungen in der Literaturgeschichte als offizielle Fakten genommen wurden.
Hermlin gibt "wahre Lüge" zu
Weder war Hermlin, wie von ihm suggeriert, als aktiver Spanienkämpfer noch als Partisan der Résistance nachweisbar, weder war er, der als Jude 1936 aus Deutschland fliehen musste, in KZ-Haft gewesen noch war sein Vater einen KZ-Tod gestorben. Hermlin gab zu, dass er 1946 gegenüber den Alliierten eine „wahre Lüge“ gebraucht hätte, in dem er im Fragebogen notierte, er sei im KZ Sachsenhausen gewesen. Andere Fehler schrieb er als Irrtümer seinen Biografen zu.
Corinos unter dem auf Hermlin gemünzten Brecht-Zitat „Außen Marmor, innen Gips“ veröffentlichte Untersuchung entfesselte eine Art Glaubenskrieg unter den Intellektuellen. Ein Kampf, in dem sich im Nach-Wende-Osten die von den Zeitläuften Beleidigten gegen die Befreiten in Stellung brachten, befeuert von westdeutschen Altlinken, die ihre geistigen Biografien verteidigten, ohne Klartext zu reden. Statt dessen arbeitete man sich an Corino ab, dessen Studie von Grund auf berechtigt war.
Lebensläufe waren politische Angelegenheit
Im Westen wollte man nicht wissen, dass Lebensläufe in der DDR eine politische Angelegenheit waren. Im Kleinen wie im Großen. Notorisch wurden ja die Lebensgeschichten der altkommunistischen Nazi-Gegner gegen die Lebensläufe der Nachgeborenen instrumentalisiert. Auch von Stephan Hermlin. Der wetterte 1984 gegen die aus der DDR ausgereisten Schriftsteller: „Flüchtlinge sind nur wir“, nämlich jene, die nach 1933 aus Deutschland gejagt wurden. „Diese Herrschaften sind Ausreißer mit Sack und Pack, bei hellichtem Tage und mit schönen Papieren.“ So ein Statement war ein Akt der Entsolidarisierung. Und der DDR-Verklärung. Wie die SED-Spitze blieb Hermlin im 1930er-Jahre-Horizont gefangen. So ging es 1996 auch darum, wie weit es schon möglich ist, die DDR-Situation ohne falsche Rücksichten darzustellen.
Hardliner und Liberaler
Hermlin konnte das nicht gelingen. Er, der sich als Gymnasiast der kommunistischen Jugendbewegung angeschlossen hatte, war immer beides: Hardliner und Liberaler, je nach persönlichem Bedarf. Nicht Hermann Kant, der Verbands-Chef, sondern Hermlin, war der eigentliche Literaturpolitiker der DDR. Der Mann, der einen guten Draht zu Honecker hatte, konnte sich leisten, was anderen unmöglich war. „Ich hatte zwar keine Macht, aber ich hatte Einfluss auf ihn“, sagte Hermlin über Honecker.
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Unter den Kommunisten gab der Schöngeist, der eigentlich Rudolf Leder hieß und sich 1931 das wohlklingende Pseudonym Hermlin zulegte, den Spätbürger, der er tatsächlich war. 1958 stellte er das Dichten ein, um nur noch als Erzähler, Essayist und Literaturpolitiker zu wirken. Der Vater des Swing-Musikers Andrej Hermlin kämpfte für die Weltliteratur, öffnete die Akademie der Künste den jungen, parteinahen Dichtern, formulierte mit Stefan Heym den Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung, setzte die Berliner Autoren-Begegnungen in Szene und brachte 1984 Grass in der DDR heraus („Das Treffen in Telgte“ mit Hermlin-Vorwort bei Reclam). Wer zu denen gehörte, die in der DDR professionell schrieben oder lasen, der verdankte Hermlin irgendetwas.
Ein nicht unverdächtiger SED-Intellektueller
Der gehörte zu den nicht unverdächtigen SED-Intellektuellen, die dafür sorgten, dass „Deutschland“ nicht vergessen wurde. Ein Deutschland, das sich kulturell und nicht ideologisch definierte, in dem es Schriftsteller wie Hölderlin, Nietzsche und George gab. Hermlins 1988 veröffentlichtes „Deutsches Lesebuch - Von Luther bis Liebknecht“ erzählt davon.
Mehr aber noch seine autobiografisch ausgestattete, 1979 veröffentlichte Erzählung „Abendlicht“. Dieses aus 27 Prosastücken tatsächlich komponierte Büchlein, legt das Lebenstrauma des deutschen Juden Hermlin frei, nämlich, die mörderische Erfahrung, dass seine Zeitgenossen unfähig waren, das Deutsche freiheitlich und nicht nationalistisch zu verstehen, sich als Teil der Weltgemeinschaft und nicht gegen diese zu begreifen. So beschwört der Ich-Erzähler angesichts des NS-Fackelzuges zu Hitlers Machtantritt in Berlin wie als ein Gegenzauber die „stille Duldsamkeit des Landes, lautlos die unüberwindliche Melancholie seiner Musik, die unhörbaren Verse seiner Dichter, seine Orakel und Prophetien“, um zu schließen: „Ich war allein, und die Engel des Vaterlandes standen um mich her.“
Ein Deutschland-Altar mit 27 Flügeln
Hermlins „Abendlicht“ ist ein Deutschland-Altar mit 27 Flügeln. Ein Buch, das übervoll ist von gestalterischer, rhetorischer, nicht selten kitschnaher Schönheit, getragen von einer heftigen Sehnsucht. Ein Buch, das sich in der DDR gar nicht voll entfalten konnte, weil es für seine Fragen gar kein öffentliches Forum, für die zeitgeschichtlichen Andeutungen kein kollektives Anschlusswissen gab.
Jetzt ist das Buch wieder da. Eine schlanke schöne Neuausgabe samt der vom Verleger Klaus Wagenbach verfassten Grabrede auf den 1997 gestorbenen Hermlin und ausgestattet mit einem Nachwort der Ostberliner Schriftstellerin Kathrin Schmidt. Gelegenheit, das „Abendlicht“ sozusagen bei Tageslicht zu lesen, und Hermlin in dem kulturhistorischen Rahmen zu betrachten, in dem er sich selbst sah. (mz)