Sächsische Großstadt Sächsische Großstadt: Karl Marx lebt in Chemnitz weiter

Chemnitz/dpa - Der Kopf von Karl Marx raucht weiter. 130 Jahre nach dessen Tod schlägt der Souvenirhandel Kapital aus dem weltweiten Ruhm des Denkers. Zumindest in Chemnitz, dem früheren Karl-Marx-Stadt, wo eine 40 Tonnen schwere und mehr als 7 Meter hohe Porträtbüste des Philosophen steht. In der Tourist-Information am Markt ist sie als Räuchermännchen zu haben - saisonunabhängig, wie Chefin Veronika Leonhardt versichert. „Marx' Kopf kann das ganze Jahr über rauchen“, sagt Leonhardt mit Blick auf Krisenzeiten. Was Marx zu aktuellen Problemen wie der Finanzkrise oder Manager-Boni sagen würde, wäre für die studierte Philosophin sehr interessant.
Leonhardt ist eine gebürtige Karl-Marx-Städterin. Dass die Einheimischen zwei unterschiedliche Geburtsorte im Ausweis stehen haben, gehört zu den Besonderheiten der sächsischen Großstadt. Wer hier vor dem 10. Mai 1953 und seit dem 1. Juni 1990 zur Welt kam, ist ein Chemnitzer. Die Jahrgänge dazwischen müssen sich aber nicht als Findelkinder fühlen. Bei ihnen steht im Personalausweis „Karl-Marx- Stadt jetzt Chemnitz“. 37 Jahre lang trug die Kommune den Namen des Mannes, der zu den bekanntesten Deutschen gehört. Nach der Wende wählten ihn die Einwohner in einem Bürgerentscheid wieder ab. 76 Prozent votierten für den alten Stadtnamen in neuen Zeiten.
Anfangs tat sich Chemnitz mit der „Altlast Marx“ schwer. Mit der Wende verschwand zwar das „Gespenst des Kommunismus“, dafür tauchten andere Revoluzzer auf. Die Karl-Marx-Allee, die sinnigerweise in einer Sackgasse endete, hieß wieder Brückenstraße. Auch ein Abriss des „Nischels“ - so nennen Chemnitzer die vom Russen Lew Kerbel geformte Bronze-Büste von Marx - war im Gespräch. Letztlich schreckten die Kosten ab. Denn auch die hinter dem Monument prunkende Hausfassade hätte man abmontieren müssen. An ihr steht in riesigen Lettern und in mehreren Sprachen der bekanntestes Spruch von Marx: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ aus dem „Kommunistischen Manifest“.
Heute ist man froh, dass es Marx noch gibt. Der „Nischel“ ist das beliebteste Fotomotiv von Chemnitz-Reisenden. Im Touristenbüro ist die Marx-Kollektion mit T-Shirt, Kaffeetassen, Büsten und anderen Utensilien der Renner, erzählt Leonhardt. Ein hölzerner „Nischel“ aus Lindenholz, lasiert und handgeschnitzt, krönt mit 145 Euro die Produktpalette. „Auch Ausländer fragen gezielt nach Karl Marx“, sagt die Leiterin. In der Galerie Schmidt-Rottluff nebenan gibt es „Marx reloaded“ als Popart kunterbunt. „Sweet-Marx“ ist mit Schokopapier umhüllt. Maler Rüdiger Philipp Bruhn und Designerin Sandra Rudolph haben auch eine mit Coca-Cola-Reklame drapierte Version geschaffen.
Chemnitz scheint mit Marx ausgesöhnt. „In unserer Stadt hat sich das Verhältnis zu Marx sichtlich entkrampft“, berichtet Hans-Joachim Siegel, Chef der Linken im Stadtparlament. Selbst in der FDP findet Marx Resonanz. „Noch immer stammt die beste Anlayse des Kapitalismus - selbst für Unternehmer - von Karl Marx“, sagte Vize-Fraktionschef Dieter Füsslein. Die CDU schweigt. Unlängst hatte ein Abgeordneter der Union im Landtag das „Manifest“ als „Manipest“ verunglimpft. Siegel hält dagegen: „Wir spüren täglich aufs Neue, wie recht Marx in seiner kapitalistischen Analyse hat.“ Auch Grünen-Stadtrat Kai Rösler hält „die Gedanken des Herrn Marx zu grundlegenden Strukturen und Mechanismen des Kapitalismus in Tagen der globalen Banken- und Finanzkrise“ für „top aktuell“.
Klaus Bartl, Landtagsabgeordneter der Linken, erlebt bei Marx immer wieder ein Déjà-vu. „Ich finde Lebensverhältnisse vor, die ich früher nur theoretisch kannte und nun nachempfinden kann. Jetzt habe ich's begriffen.“ Als Rentner will er „Das Kapital“ auf jeden Fall noch einmal lesen. Stadtrat Rösler plagen beim Blick auf den Bronze- Kopf Sorgen: Er befürchtet - freilich etwas augenzwinkernd -, dass Buntmetalldiebe Begehrlichkeiten entwickeln oder aber dass die Stadt bei klammen Kassen den Kopf als kapitale Rücklage betrachten könnte. In einem deckt sich Röslers Wunsch mit dem vieler: Sie möchten den früheren Werbeslogan von Chemnitz wiederhaben: „Stadt mit Köpfchen“.