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Sachsen-Anhalt Sachsen-Anhalt: Nietzsche hätte Hitler rausgeworfen

26.08.2009, 17:07

NAUMBURG/MZ. - Herr Lütkehaus, das Land Sachsen-Anhalt ehrt Sie im Namen Friedrich Nietzsches. Ist Nietzsche über die Preis-Summe hinaus ein Denker, der bei Ihnen für Vernügen sorgt?

Lütkehaus: (lacht) Nun, die Preis-Summe sorgt tatsächlich bei mir für Vergnügen. Mehr noch allerdings Nietzsche selber. Über Nietzsches Pathos und seinem Ernst wird oft vergessen, wie lebendig, geistreich, witzig, sarkastisch, ironisch, kurz: wie vergnüglich im besten Sinn er ist. Ich habe vor Jahren einen Reclam-Band herausgegeben, der "Nietzsche zum Vergnügen" dokumentiert. Der Band litt nicht an Stoffmangel. Nehmen Sie nur das Titel-Zitat: "Stehlen ist oft seliger als nehmen."

Worin besteht für Sie die kulturelle Leistung Nietzsches?

Lütkehaus: Nietzsches kulturelle Leistungen sind unermesslich: Man weiß nicht, wo man anfangen soll. Hier nur dies: Nietzsche hat eine staubtrockene, in Gelehrsamkeit, bloßer "Bildung", in Mumienhaftigkeit untergegangene Kultur wieder mit dem Leben verbunden. Er war im produktivsten Sinn unzeitgemäß, das heißt auch: ein scharfer Kritiker der dekorativen Pseudo-Kultur seiner Zeit. Ganz aktuell für die gegenwärtige Situation hat er seine Zeitgenossen darauf gestoßen, dass mit der Reichseinigung 1871 keinesfalls die Kultur gesiegt hatte. Aber er hat auch schon die deutsche Kultur in Richtung auf eine europäische überschritten: als "guter Europäer", wie er sagt. Ja, er denkt wie sein Lehrer Schopenhauer im Sinn einer Weltkultur: "In einem gegenseitigen Sich-Verschmelzen liegt der eigentliche Wert und Sinn der jetzigen Kultur".

Welches Werk Nietzsches schätzen Sie am meisten - und warum?

Lütkehaus: "Die Fröhliche Wissenschaft". Sie ist Nietzsches brillantestes, auch sein klarstes Werk. In ihr kulminiert der "mittlere", der Aufklärer Nietzsche, der an die westeuropäische Aufklärung anschließt.

Bis heute klebt an Nietzsche das Urteil, er sei ein geistiger Wegbereiter des NS-Systems gewesen. Ist das Unsinn?

Lütkehaus: Ja, das ist Unsinn. Es gibt bei Nietzsche zwar Ansätze, die in Richtung NS-Ideologie führen könnten. Die "blonde Bestie" zum Beispiel - das steht nun einmal da. Aber wer ist die "blonde Bestie"? Der "dumme, blonde Siegfried". Die Zurichtung Nietzsches für den Nationalsozialismus ist das Fälschungswerk seiner Schwester. Sie war Antisemitin - ihr Bruder war Anti-Anti-Semit. Sie hat Hitler in der Weimarer "Villa Silberblick" empfangen - Nietzsche hätte Hitler hinausgeworfen.

Sie gelten hierzulande als entschiedener Gegner der etablierten akademischen Philosophen. Was werfen Sie denen vor?

Lütkehaus: Nein, ich bin kein Gegner der akademischen Philosophie im Ganzen. Ich kritisiere nur ihre Verkrustungen, beispielsweise, dass sie über weite Strecken auf Philosophiegeschichtsschreibung und bloße Textinterpretation geschrumpft ist, wo es heute mehr denn je darauf ankäme, dass man die "Sachen selbst", die Probleme der Gegenwart, diskutiert.

Sie polemisieren gerne gegen die "Sitz-Denker", die "geistigen Anti-Nomaden". Verlangen Sie den Wander-Philosophen?

Lütkehaus: Ich verlange nicht, ich würde mich freuen, wenn sich die Philosophen im wörtlichen wie im übertragenen Sinn wie Nietzsche als "nomadische" Denker verstünden statt mit historisch "ersessenen Gedanken" nur am Schreibtisch zu sitzen. Natürlich muss man gelegentlich auch "sesshaft" und fleißig sein. Nietzsche selber hat es nicht anders gehalten. Aber er hat allen Gedanken misstraut, die nicht im Freien geboren waren, von "freien Geistern" in freier geistiger und physischer Bewegung.

Ihre eigene philosophische Position bezeichnen Sie als "vollendeten Nihilismus". Was soll das bedeuten?

Lütkehaus: Nach Nietzsches Lehrer Schopenhauer ist es der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu behalten, der den Philosophen macht - ich füge hinzu: auch keine Antwort. In meinem Buch "Nichts", das jetzt in der achten Auflage im Haffmans Verlag bei "Zweitausendeins" erschienen ist, versuche ich zu zeigen, wie sehr die Angst vor dem Nichts - und dementsprechend auch dem Nihilismus - das westliche Denken und Leben bestimmt, das so zwanghaft auf das Sein, die Selbstbehauptung und Selbststeigerung fixiert ist. Das "Nichts" ist aber kein Grund zu Angst und Sorge, auch in Bezug auf das Sterben und den Tod nicht. Deswegen kann man den Nihilismus nur überwinden, indem man ihn vollendet: Nicht ist nichts - und sonst nichts.

Wenn es um das Verneinen geht: Welche heute gängigen Meinungen oder Glaubenssätze würden Sie gern erschüttert sehen?

Lütkehaus: ",Wir haben das Glück erfunden' - sagen die letzten Menschen und blinzeln", heißt es in Nietzsches Vorrede zum ersten Teil des "Zarathustra". Heute wird überall "geblinzelt" und das Glück erfunden, das keines ist, im Stumpfsinn des Konsumismus oder der Primitivität der "Spaßgesellschaft". Ich halte es lieber mit einem der letzten Sätze Nietzsches: "Ich leide an zerrissenen Stiefeln und danke dem Himmel jeden Augenblick für die alte Welt, für die die Menschen nicht einfach und still genug gewesen sind."

Zum Abschluss: Welcher Nietzsche-Satz ist Ihnen der wichtigste?

Lütkehaus: Das wechselt. Heute: "Wir sind so gern in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat."