Sachbuch Sachbuch: «Höhenrausch» von Jürgen Leinemann
Halle/MZ. - Um das Urteil vorwegzunehmen: Ein Gesamtkunstwerk, das in seiner Dichte beeindruckt, Sittengemälde der politischen Klasse.
Der Untertitel des Buches lautet: "Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker". Leinemann umschreibt das Verhalten und die Befindlichkeiten der meisten Politiker mit dem Begriff der "Sucht": "Die Wirklichkeit wird als unerfüllt und bedrohlich erlebt", wodurch "ein gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit" entsteht. Diese Definition fällt umso mehr auf, als "Realitätsferne" ein überstrapaziertes Argument in politischen Debatten ist.
Leinemann hat nicht ohne Grund gewartet, bevor er mit seinen Bekenntnissen und Erkenntnissen an die Öffentlichkeit gegangen ist, war er doch selber höchst gefährdet. "Besoffen" von der eigenen Bedeutung, fast schon Kumpanei mit denen, die er distanziert beobachten sollte - Leinemann soff bis zur Besinnungslosigkeit und erkannte, "dass mein privates Unglück, meine zunehmende Entfremdung von mir selbst, vom gesellschaftlichen und politischen Umbruch ... nicht zu trennen war". Da war er nicht nur Protokollant, "sondern Mitspieler in der politischen Klasse".
Leinemann beschreibt die Machthaber, die die Bundesrepublik geprägt haben, über 40 Jahre lang wird er Zeuge einer charakterlichen Veränderung. Von Generation zu Generation farbloser und austauschbarer, je weniger sie vom Leben außerhalb des Politbetriebs geprägt sind. "Nur Karrieren, keine Schicksale", wird Alt-Kanzler Helmut Schmidt zitiert. Schmidt gehört zu dem Typ Politiker, die, kriegserfahren, von Aufbauwillen und Pflichterfüllung geprägt, eine besondere Form der Sucht entwickeln: "Willkommen im Klub derjenigen, die, statt sich mit Alkohol zu betrinken, sich mit Arbeit besoffen machen", rief er einst Hans-Jürgen Wischnewski zu. Workaholics, die durch eine "Gefühlsrohheit" auffallen, "die wirklich unglaublich (ist)", zitiert Leinemann Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Dieser Druck bedingt, praktisch als Ersatzbefriedigung, eine Anfälligkeit für die Privilegien und die hektische Selbstgenügsamkeit des politischen Betriebes.
Die Wirklichkeit holt die ein, die abstürzen aus den Gipfeln der Macht: Uwe Barschel, Jürgen Möllemann, die den Freitod wählen und die weniger dramatischen Schicksale Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine, die Gesundheitsministerin Andrea Fischer. Heide Simonis spricht von der "Angst vor der Leere und Stille", wenn man von der Bühne abtritt.
Sucht ist für Leinemann eine spezifische Krankheit unseres Zeitalters, nicht nur des Politikers. Auch die "Meute" der Berichterstatter gehört dazu, "da Politiker zusammen mit den Fernsehjournalisten die kollektive Wahrnehmung organisieren". Die Volksvertreter unterliegen aber einer besonderen Gefährdung: Macht, Erfolg, öffentlicher Applaus, Alkohol.
So stimmt diese Randnotiz eher traurig: Der Bundestagswirt Osvaldo Cempellin, der drei Jahrzehnte den Abgeordneten eingeschenkt und zugehört hat, erhielt 2003 "in Anerkennung der um Volk und Staat erworbenen Verdienste" das Bundesverdienstkreuz.