1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Russischer Revolutionsführer: Russischer Revolutionsführer: Was Lenin einst nach Halle führte

Russischer Revolutionsführer Russischer Revolutionsführer: Was Lenin einst nach Halle führte

Von Steffen Könau 11.04.2017, 10:00
Lenin kommt in Petrograd an - der Maler hat Stalin hinter ihn gemalt, obwohl der nicht im Zug war.
Lenin kommt in Petrograd an - der Maler hat Stalin hinter ihn gemalt, obwohl der nicht im Zug war. Anatoly Sokolov

Halle (Saale) - Es stand niemand an der Strecke und es gab auch keinen Halt wie in Frankfurt am Main, wo Soldaten Bier in den Wagen schaffen durften. Wladimir Iljitsch Uljanow (1870-1924), besser bekannt als Lenin, fuhr in der Nacht zum 11. April vor 100 Jahren vollkommen unbemerkt durch den Hauptbahnhof von Halle. Zumindest unbemerkt von Behörden und Arbeiterfunktionären.

Nur Kronprinz Wilhelm von Preußen, der gleichzeitig unterwegs war, bekam mit, dass irgendetwas den normalen Bahnverkehr durcheinandergebracht hatte. Zwei Stunden musste der Sonderzug des Erbfolgers vor der Saalestadt warten, damit der Zug mit den beiden Waggons, in denen sich Lenin und drei Handvoll Getreue befanden, passieren konnte. Erst Tage später, das zeigen Unterlagen aus dem halleschen Stadtarchiv, vermerkt der „General Anzeiger“ das nächtliche Nicht-Ereignis in einer kurzen Notiz unter dem Titel „Russische Revolutionäre auf der Durchreise“.

Lenins Reise im „verplombten Zug“

Eine Reise in die Revolution, die später als „Fahrt im verplombten Zug“ mystifiziert werden wird. In der DDR erzählen Lehrer ihren Schülern die Geschichte Lenins als Heldensaga. Lenin habe „die Gegensätze zwischen den imperialistischen Staaten ausgenutzt“, um von Deutschland - zu jener Zeit Kriegsgegner Russlands - die Genehmigung zu erhalten, aus seinem schweizerischen Exil nach Petrograd reisen zu dürfen.

Der Waggon, in dem neben dem künftigen Revolutionsführer auch der österreichische Internationalist Karl Radek und Lenins Frau Nadeschda Krupskaja mitfuhren, sei verplombt gewesen, weil das Deutsche Reich Solidaritätsbekundungen deutscher Arbeiter für Lenin befürchtet habe. Zudem hätten die Russen die Bedingung gestellt, ihre Waggons als exterritoriales Gebiet zu betrachten, um daheim nicht Vorwürfen ausgesetzt zu werden, sie hätten mit dem Kriegsgegner Deutschland paktiert.

Deutschland hatte politisches Interesse an Lenins Reise

Genau das aber taten sie natürlich. Deutschlands Interesse daran, Lenin zurück nach Russland zu bekommen, resultiert allein aus der Hoffnung, der Bolschewik werde die seit der Abdankung von Zar Nikolaus II. chaotischen Verhältnisse in Russland weiter durcheinanderwirbeln. Der Generalstab des Deutschen Reiches, der mit Rittmeister Arved von der Planitz einen eigenen Betreuer im selbsternannten Diplomatentransport untergebracht hat, sieht in Lenin ein Werkzeug, den angeschlagenen Gegner Russland zu einem Separatfrieden zu zwingen.

Würde Lenin ein Ende des „imperialistischen Kampfes um die Aufteilung der Welt“ (Lenin) erreichen, könnte die Reichswehr ihre Truppen aus dem Osten abziehen. Und mit neuer personeller Überlegenheit an der Westfront eine Entscheidungsoffensive gegen Frankreich und England starten.

Die Deutschen wollten Lenin benutzen - und Lenin benutzte die Deutschen

Die Deutschen wollen Lenin benutzen - und Lenin benutzt die Deutschen. Im Waggon führt der 46-Jährige, der nicht weiß, ob ihn in Petrograd Jubel, Gefängnis oder der Tod erwartet, ein bizarres Regiment, wie die britische Historikerin Catherine Merridale in ihrem gerade erschienenen Buch „Lenins Zug“ (S. Fischer, 354 Seiten, 25 Euro) beschreibt.

Weil ihn die Fröhlichkeit einiger Genossen stört, erklärt er die Einhaltung fester Schlafenszeiten zur „revolutionären Pflicht“. Da er gleichzeitig ein Rauchverbot verhängt hat und die zweite Toilette am anderen Waggonende durch einen Kreidestrich, der das „russische“ Gebiet von dem der deutschen Begleiter abgrenzt, unerreichbar ist, gibt Lenin zudem Klo-Karten 2. und 1. Klasse aus: Die ersteren berechtigen zum Rauchen, die anderen aber stechen den revolutionären Rauchgenuss, wenn dringendere Bedürfnis erledigt werden müssen.

Lenin reiste von Halle über Berlin und Trelleborg bis zur finnischen Grenze

Es ist eine lange Fahrt, die von Halle über Bitterfeld bis Berlin, dann weiter nach Sassnitz und nach einer Fährfahrt Richtung Trelleborg per Zug durch ganz Schweden bis zur finnischen Grenze führt. Fritz Platten, der Reiseleiter der Revolutionärsrunde, zu der auch der später von Stalin hingerichtete Grigori Sinowjew gehört, bezeugt eine „einwandfreie Haltung Lenins und Genossen“.

Er kann aber auch nicht erklären, weshalb sich die deutsche Regierung von einer Handvoll Russen „Vorschriften machen ließ, unter welchen Bedingungen eine Reise durch ihr Land abzuwickeln“ sei. Ohne Unterwäschewechsel geht es über 3 000 Kilometer bis nach Haparanda. Ein Krimi, dessen wahre Dimension bis heute rätselhaft bleibt.

Klar ist, dass Reiseorganisator Alexander Parvus, ein Weißrusse, der für das SPD-Blatt Leipziger Volkszeitung schreibt und mit Clara Zetkin und Trotzki befreundet ist, der deutschen Regierung schon 1915 vorgeschlagen hat, russische Revolutionäre zu nutzen, um die Verhältnisse in Russland zu destabilisieren. Jetzt scheint die Botschaft angekommen: Kaiser Wilhelm II. will „einen Combattanten absprengen“, der spätere Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau „in Russland größtmögliches Chaos schaffen“.

Deutschland erreicht sein Ziel, verliert aber dennoch den Krieg

Sechs Tage vor Lenins Abfahrt bewilligt das Auswärtige Amt eine Zahlung von fünf Millionen Reichsmark, die vermutlich über Parvus’ Firma Eksportkompagniet nach Petrograd fließt. Damit finanzieren die klammen Bolschewiki den Druck ihres Sprachrohres „Prawda“.

Nur sechs Monate später ist Lenin Führer der Oktoberrevolution. Acht Monate danach bekommt Deutschland seinen Separatfrieden. Den Krieg verliert es trotzdem, denn Kontrolle über Lenin hat es nie gehabt. Fritz Platten zieht 1923 nach Russland um, dort wird er 1938 zu vier Jahren Arbeitslager verurteilt und nach Verbüßung seiner Strafe erschossen. Sein Todestag ist der 22. April 1942, Lenins Geburtstag. (mz)