Romanautor und Sozialkritiker Romanautor und Sozialkritiker: Rafael Chirbes gestorben

Madrid - „Wir Romanschreiber von heute streunen gleichsam scheu und allein herum, erschnüffeln den verwirrenden Geruch der Zeit, jagen etwas nach, von dem wir nicht einmal wissen, was es sein könnte.“ Das schrieb Rafael Chirbes in einem Essay für den „Kölner Stadt-Anzeiger“. Und er fuhr fort: „Jeder kaut an seinem eigenen Roman, so wie jeder an seinem eigenen Tod kaut – die Tabletten und das Wasserglas auf dem Nachttisch. Unser Anspruch geht allenfalls so weit, Chronisten unseres eigenen Lebens zu sein, unseren Weg durch die Welt auf dem Block zu notieren, den uns – für eine wahrlich kurze Zeitspanne – der Tod zur Verfügung stellt.“
Der spanische Autor, 1949 in der Nähe von Valencia geboren, jagte in seinem Werk dem Verlust und der Trauer nach, der Gewalt der Franco-Ära und der Verwüstung der Küstenlandschaft durch den Bauboom, den er von der Terrasse seiner Wohnung in Beniarbeig bei Alicante mit eigenen Augen sehen konnte. Immer basieren seine Werke auf einer „Liebe für die da unten“, wie er es einmal sagte. Diese Prosa war geprägt von einer melancholischen Stimmung wie in „Die schöne Schrift“ oder von einer heftigen Empörung wie in „Krematorium“.
Beides freilich, die Melancholie und die Empörung, waren nicht die Stimmungen, denen er sich im persönlichen Kontakt überließ. Da war er ein überaus liebenswerter, zugewandter und bescheidener Autor. Nicht zuletzt Leser dieser Zeitung konnten diese Erfahrung machen, als Chirbes im November 2007 in Köln und Umgebung zu Gast war – sein früher Roman „Die schöne Schrift“ war in jenem Jahr das „Buch für die Stadt“.
Faszinierend in seiner scheinbaren Schlichtheit ist dieser Text bei jedem Wiederlesen. Chirbes lässt darin eine Frau auf ihr Leben zurückblicken – was allemal ungewöhnlich ist, da sie zeitlebens keine Gelegenheit hatte und diese auch nicht suchte, sich in den Mittelpunkt zu stellen. Zu bedrückend waren Hunger, Armut, persönliche Enttäuschung und die Angst in den Zeiten des Bürgerkriegs. Immer wieder kämpfend um Würde und Überleben, ist Ana müde geworden. Ihre Lebensbilanz, ohne Anklage oder Wehmut formuliert, fällt bitter aus: Alles Kämpfen sei umsonst gewesen. Der Roman endet mit dem Satz: „Jetzt warte ich.“ Gewiss nicht auf das Glück.
Umfänglicher hat Chirbes die Franco-Ära in dem Roman „Der lange Marsch“ beschrieben, darin die Zeit von 1940 bis 1970 in mehreren Lebensläufen erfassend, sowie in „Der Schuss des Jägers“, worin sich ein alter Mann an seinen geschäftlichen Aufstieg in der Diktatur erinnert. Wie es war, als der Diktator Franco starb, genauer gesagt: wie es am Vortag zuging, schildert Chirbes in dem Roman „Der Fall von Madrid. Ein Tag im November 1975, an dem Täter, Mitläufer und Opfer des Systems die Augen aufreißen und nicht wissen, wohin der Weg sie nun führen wird. Nimmt die Gerechtigkeit ihren Lauf, kommt es zur Versöhnung der Gesellschaft? Oder bleiben die alten Machtstrukturen im Wesentlichen erhalten?
Scharfer Abschluss einer Trilogie
Eine ausführliche Antwort gibt der Autor in dem Roman „Alte Freunde“. Chirbes versammelt darin ehemalige Gegner des Caudillo, Verschwörer und Rebellen, die nicht den Weg in eine bessere Welt, wohl aber in ein sehr bemerkenswertes Wohlleben gefunden haben – als Unternehmer, Funktionäre und Politiker. Dies war der scharfe Abschluss seiner Trilogie über die Franco-Zeit, während derer er selbst einmal als politischer Gefangener einsitzen musste.
Mit dem Roman „Krematorium“ verschob er dann den Focus nur scheinbar. Das monströse Werk über den Bauboom, ausgelöst durch die Sonnensehnsucht der Touristen aus dem Norden, stellt nicht die Diktatur in den Mittelpunkt. Gleichwohl bleibt Chirbes sich treu, indem er einen kritischen Blick auf die spanische Gesellschaft wirft. Der rücksichtslosen Euphorie der Architekten und Investoren folgt dann im letzten Roman „Am Ufer“ (2013) das böse Erwachen: Die Immobilienblase ist geplatzt. Und in einem Sumpf scheint alles zu versinken: Gebäude, Menschen, Hoffnungen. Der Autor dirigiert auch hier einen Chor der Stimmen. Dies war in vielen Romanen seine erzähltechnische Antwort auf die Komplexität des Lebens.
Was das Leben sonst so ausmacht? In „Krematorium“ lässt Chirbes, der auch Reiseessays und Gourmetkritiken schrieb, einen Protagonisten darauf antworten: „Man häuft Wissen an wie eine Elster, hört tausend Platten, liest ein Buch nach dem anderen, sieht Hunderte von Fernsehsendungen, blättert im Laufe des Lebens in Millionen Zeitschriften, denkt nach, informiert sich, und dann stirbt man, und wenn man noch halbwegs klar ist, denkt man dabei bestimmt auch an all die verlorene Zeit.“ Nun ist Rafael Chirbes gestorben. Spaniens großer Autor erlag am Samstag im Alter von 66 Jahren einem Krebsleiden.