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Roger Willemsen im MZ-Interview Roger Willemsen im MZ-Interview: »Im Dienst am Künstler schlucke ich die Kröten»

10.02.2002, 15:12

Halle/MZ. - Auch in der Politik?

Willemsen: Die Entfernung von Inhaltenin der Politik kann man im Afghanistan-Kriegbemerken: Was früher wesentlicher Teil derFriedenspolitik war, wird jetzt einfach beiseitegelegt. Und Wenn Schröder von "uneingeschränkterSolidarität" mit Amerika spricht, muss ichsagen: Er hat kein Recht irgend jemandem eineuneingeschränkte Solidarität zuzumessen, weilwir, das Volk, seine Solidaritätsbekundungdefinieren und auch einschränken. "UneingeschränkteSolidarität" - für mich ist dies das Unwortdes Jahres.

In dem Stück, das Sie am Darmstädter Theaterplanen, geht es dem Vernehmen nach um dasThema Selbstmord. Was interessiert Sie daran?

Willemsen: Das Weltbild des Unglückshat mich schon immer stärker fasziniert alsdas Glück. Unsere Massenkultur bewegt sichim weitesten Sinne in Richtung Jugend, Potenzund Optimismus. Es gibt aber Leute, die machenaus allem, was sie sehen, ein Argument dafür,das Leben nicht fortzusetzen. Auf meiner Deutschlandreise,deren Aufzeichnungen ich gerade auf CD aufgenommenhabe, habe ich, vor allem im Westen, nur seltenLeute über Tod und Trauer, auch über Kulturim weitesten Sinne, reden hören. Es ging immerum das Problem der Profitmaximierung.

War das im Osten anders?

Willemsen: Ja. Auch wenn es da schwierigerwar, die Leute zu erreichen: Es gibt eineSchicht des Misstrauens, die ich verstehe.Eine Frau erzählte mir in der Straßenbahnihre Liebesgeschichte, eine andere las mirihre Lyrik vor - bewegend.

Sie waren auch in Halle.

Willemsen: Ich bin da auf eines derbeeindruckendsten Denkmäler der Industriearchitekturgestoßen - mit Basketballplätzen außen herum.Ich bin über den Zaun geklettert. Da war niemandin der Sommerhitze, niemand konnte mir sagen,was hier überhaupt produziert wurde.

Warum kommen Sie nach Halle zu einem Rosenmontagskonzert.Sind Sie ein Karnevalist?

Willemsen: Ich habe seit 20 Jahrenkeinen Karneval mehr gefeiert. Der Reiz bestanddarin, einen Text zu Camille Saint-Saens'"Karneval der Tiere" in Verse zu bringen.Im Konzert wird er uraufgeführt.

Das Interesse an klassischer Musik schwindetzusehends, das Publikum wird immer älter.Ist Klassik ein Auslaufmodell oder ist esnur die traditionelle Präsentationsform?

Willemsen: Ich habe mich viel mitdieser Frage beschäftigt. Und bin ratlos.Ich glaube weder an Crossover à la "Die Scorpionstreffen die Berliner Philharmoniker" nochan "Klassik zum Kochen". Warum nicht gleich"Klassik zum Kotzen"? Wenn es nicht möglichist, der Musik ihr Eigenes zu lassen, kannman auch auf sie verzichten.

Sie haben jedoch die industriegesteuerteVerleihung des Echo-Klassik-Preises moderiert.

Willemsen: Das ist auch oft genugkritisiert worden. Ich verstehe die Leuteja, aber wenn es nicht anders möglich ist,einem Massenpublikum neben den bekannten auchein paar unbekannte Künstler und Komponistenvorzustellen, schlucke ich die Kröten undsage: Ja, dazu kann man stehen.