Robert und Edward Skidelsky Robert und Edward Skidelsky: "Das System verfault"

Ein Gespräch über Gierhälse, die gerechte Verteilung des Wohlstandskuchens und Anleitungen für ein gutes Leben. In ihrem gemeinsamen Buch „Wie viel ist genug?“ schaffen es Robert und Edward Skidelsky, ganz locker das Wort „Hundescheiße“ unterzubringen, wenn es um die Fähigkeiten der Werbung geht, den Leuten unnützes Zeug anzupreisen.
Joachim Frank sprach mit den beiden Skidelskys.
In ihrem Buch propagieren Sie das Ideal eines „guten Lebens“ und beginnen mit einem pädagogischen Trick, nämlich mit einer Frage: Wie viel ist genug? Die Antwort darauf hätte ich gern von Ihnen gehört.
Edward Skidelsky: Wir nennen absichtlich keine Geldsumme. Das wäre erstens unredlich und zweitens gerieten wir sofort in sinnlose Endlosdiskussionen mit eigentlich jedermann. Wir bestimmen das „gute Leben“ nach dem Maß, in dem bestimmte Güter für uns verfügbar sind. Das hängt vom Alter ab, von der persönlichen Lebenssituation, von politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
Aber in einer Fußnote Ihres gemeinsamen Buchs versteckt, steht dann doch eine Zahl: Mit 40 000 bis 50 000 Euro pro Jahr lasse sich in unseren Breiten ein gutes Leben führen, sagen Sie.
Robert Skidelsky: Unsere Überlegungen basieren auf einem kleinen Aufsatz von John Maynard Keynes aus dem Jahr 1930: „Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“. Darin sagt Keynes, das Vier- bis Fünffache des damaligen Durchschnittseinkommens wäre ausreichend für ein gutes Leben. Ich habe das mal für unsere Verhältnisse hochgerechnet und bin so auf die besagten 40 000 bis 50 000 Euro gekommen. Natürlich haben wir heute höhere Standards. Trotzdem wären wir heute eigentlich nahe genug an Keynes’ Ideal von einem guten Leben, um an weniger Arbeit und mehr Muße denken zu können. Das war der Sinn meiner kleinen Gedankenspielerei.
Keynes schrieb vor mehr als 80 Jahren, dass in absehbarer Zeit die materiellen Bedürfnisse der Menschen befriedigt sein würden und das unablässige Streben nach immer mehr zum Erliegen kommen würde. Hat Keynes selbst an diese Möglichkeit geglaubt?
RS: Zutiefst! Sein ganzes Denken war darauf ausgerichtet. Deshalb war er auch so hinter Vollbeschäftigung her. Die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre war für ihn eine einzige ungeheuerliche Verschwendung von Ressourcen, die mit der nötigen Sensibilität der Politik und den richtigen Wirtschaftstheorien vermeidbar gewesen wäre. Das hätte er in der Krise 2008 auch wieder gesagt.
Warum ist er mit seiner Prognose so grandios gescheitert?
ES: Aus zwei Gründen. Der erste hat mit der Natur des Menschen und den individuellen Motiven seines Handelns zu tun. Keynes dachte, die menschlichen Bedürfnisse seien endlich. Irgendwann seien wir zufrieden mit dem, was wir haben. Das stimmt nicht. All unsere Bedürfnisse sind relativ. Wir vergleichen uns immer mit unserem Nachbarn und streben nach dem, was andere haben, wir aber nicht.
Der zweite Grund?
ES: Liegt im kapitalistischen System, das uns zur Jagd nach immer mehr verdammt. Der Kapitalismus gießt Öl ins Feuer des menschlichen Verlangens. Politik hat jeden Versuch aufgegeben, die Marktkräfte zu steuern.
RS: Keynes’ Konzept der Sättigung unserer Bedürfnisse hat hier keinen Platz. Das kapitalistische System erzeugt ständig neue Begierden und stimuliert den Status-Wettbewerb immer neu.
ES: Am besten sehen wir das an der Werbung. Sie setzt an der Unersättlichkeit des Begehrens an.
RS: Obwohl wir längst genug haben, sollen wir immer weiter im Hamsterrad rennen, weil uns sonst andere Volkswirtschaften im internationalen Wettbewerb überholen und wir „das asiatische Jahrhundert“ nicht überleben würden. Unsere Politiker haben für die Zielbestimmung der Wirtschaft nichts anderes auf Lager als „Wachstum, Wachstum, Wachstum“. Derweil kassiert eine habgierige Plutokratie im Westen ab und verbrämt ihre Raubzüge mit idyllischen Begriffen von Freiheit und Globalisierung. Dass dieses ganze System von innen her moralisch verfault, spricht kaum einer aus.
ES: Wir haben vergessen, wofür Reichtum da ist, weil uns die Sprache des „guten Lebens“ abhanden gekommen ist.
„Vergessen“, sagen Sie. Das heißt, es gab das Wissen und die Sprache vom guten Leben?
ES: Tatsächlich müssen sich die Ökonomen nur auf ihre Wurzel besinnen: die Moralphilosophie. Adam Smith, der Begründer der modernen Ökonomie, war von Haus aus Philosoph. Auch Keynes war Philosoph, ehe er sich den Wirtschaftswissenschaften zuwandte. Das Paradigma einer moralfreien Ökonomie ist neu.
RS: Wir waren die A-Moralität zeitgenössischen ökonomischen Denkens leid, das Ziel und Zweck des Geldverdienens ausblendet. Es wird so getan, als wären die Leute je zufriedener mit ihrem Leben, desto mehr sie konsumieren. Das ist natürlich kompletter Unsinn.
Interessanterweise gibt es in jüngster Zeit eine Reihe von Reanimationsversuchen für eine „Ökonomie von Gut und Böse“. Warum?
RS: Das war ein ausgesprochen faszinierender Gedanke für uns: Der Kapitalismus ist der Pakt der Ökonomen mit dem Teufel. Der Teufel verspricht Reichtümer, aber er verlangt auch seinen Preis dafür. Das ist ja der Clou des faustischen Paktes. Genau das Gleiche ist den Wirtschaftswissenschaftlern passiert: Sie haben dem Kapitalismus Raum gegeben – zum Besten der Gesellschaft, wie sie dachten. Der Kapitalismus sollte den allgemeinen Wohlstand mehren. Das ist in unseren Breiten auch gelungen. Aber dann meinten die Ökonomen, sie könnten – wie Faust zum Teufel – sagen: „Du hast deinen Job erledigt. Jetzt Marsch, zurück in die Hölle!“ Aber so leicht lässt der Teufel sich nicht verjagen. Wir haben uns mit dem Kapitalismus eine Art von Frankensteins Monster erschaffen, das läuft und läuft und läuft. Wohl aber wissen wir im Tiefsten unseres Herzens: Das kann auf Dauer nicht gutgehen.
ES: Keynes hat es hübsch ausgedrückt. Noch für die nächsten hundert Jahre müssten wir nach dem Prinzip verfahren, das Shakespeare im „Macbeth“ den Hexen in den Mund legt: „Fair is foul, and foul is fair“ – gut ist böse, böse ist gut. Aber wir haben dieses Wechselspiel so sehr verinnerlicht, dass wir nicht mehr zu sagen wissen, was nun wirklich das „Gute“ ist.
RS: Wenn wir heute all die Milliardäre sehen, die schwerreichen Banker, dann sind das auch alle Frankensteins auf ihre Art. Sie halten sich für unfehlbar. Sie glauben, sie seien unglaublich wertschöpferisch tätig. In Wahrheit sind sie Gierhälse, viele von ihnen auch Betrüger. Wir verehren sie wie Götter. Aber es sind falsche Götter – moralisch, ökonomisch, politisch.
Oligarchen- und Banker-Bashing ist leicht. Aber sind wir nach unseren Maßstäben nicht alle kleine Frankensteins?
ES: Die Frage nach dem „guten Leben“ stellt sich nicht rein individuell. Wir müssen sie kollektiv angehen.
RS: Wir wären zu einem guten Leben fähig. Wir müssten andere nicht ständig beneiden, weil wir eigentlich genug haben.
Dann sollten wir das jetzt tun. Was gehört zu einem guten Leben?
ES: Wir haben dazu in den Theorien vom guten Leben Übereinstimmung festgestellt und daraus sieben „Basisgüter“ abgeleitet. Nennen wir sie die „destillierte Weisheit“ von dem, was „gutes Leben“ auszeichnet.
Nämlich?
ES: Gesundheit, Sicherheit, Respekt, persönliche Autonomie, Freundschaft, Harmonie mit der Natur und Muße. Die Begriffe sind nicht entscheidend, Sie könnten auch andere finden.
RS: Mit Freundschaft zum Beispiel meinen wir die ganze Bandbreite emotionaler Beziehungen. Nennen Sie es „Liebe“. Das wäre uns auch recht. Aber uns schien Freundschaft der angemessenere Begriff zu sein.
ES: Wichtig ist, dass es sich bei den Basisgütern nicht um unsere persönlichen Vorlieben handelt.
Gibt es für Sie eine Hierarchie der Güter?
RS: Ich denke, nein. Oder was meinst du?
ES: Es hat in der Philosophie viele Versuche gegeben, ein höchstes Gut zu bestimmen. Das ist uns zu eng. Wir vertreten ein plurales Konzept, innerhalb dessen die demokratische Gesellschaft und der Einzelne eine Güterabwägung vornimmt.
RS: Wobei keines der Basisgüter ganz eliminiert werden darf. Alle müssen für ein gutes Leben irgendwie vorhanden sein.
Und was ist mit dem Staat?
RS: Der Staat muss dafür sorgen, dass seine Bürger die größtmöglichen Chancen auf ein gutes Leben haben, und er muss Anreize dafür setzen. Wir wollen einen „freundlichen Paternalismus“, einen starken Staat als starken Akteur. Die Jünger des Marktes sehen den Staat in einer rein passiven Funktion als Garant freier Entfaltung des Marktes. Aber das ist Unsinn.
ES: Die Idee des „neutralen Staats“ ist ohnehin nichts weiter als ein Mythos liberaler Philosophen und Ökonomen. Der vermeintlich „neutrale Staat“ gibt seine Macht lediglich aus der Hand – und überlässt sie den Kapitalisten.
Wie stark darf der Druck des Staates sein? Muss er Bürger zum guten Leben zwingen?
ES: Denken Sie daran, dass Autonomie ein Basisgut ist. Das allein schließt den Einsatz von Zwang durch den Staat aus.
RS: Der Staat sollte auch eher ermutigen als verbieten. Nehmen Sie als Beispiel die Arbeitsteilung. Der Staat könnte durch seine Steuergesetze Anreize setzen, Arbeit zu teilen und die Arbeitszeit zu reduzieren, so dass nicht ein Teil der Arbeitnehmer 40 Stunden und mehr arbeitet, ein anderer Teil dafür aber keine Arbeit hat.
Sie machen noch eine Reihe anderer konkreter Vorschläge: bedingungsloses Grundeinkommen, gesetzliche Arbeitszeitbegrenzung, eine Finanztransaktions- und Vermögenssteuer, Luxussteuern und die Einschränkung von Werbung. Damit könnten Sie in Deutschland nur die Linkspartei beglücken.
RS: Wir dürfen den Mythen des politischen Diskurses nicht auf den Leim gehen. Wir haben staatliche Lenkung allenthalben. Schon jetzt bedeuten unsere Vorschläge keinen Systemwechsel. Selbst Werbeverbote gibt es schon. Der liberale Mythos tut so, als hätte Werbung rein informativen Wert. In Wahrheit lenkt die Werbung Bedürfnisse – und zwar immer auf mehr Konsum. Dagegen wollen wir angehen.
Bei der Werbung mag es Ihnen noch leicht fallen, Zustimmung zu bekommen. Beim bedingungslosen Grundeinkommen dürfte das schon anders aussehen.
ES: Selbstverständlich ist ein Grundeinkommen nur sinnvoll in einer wohlhabenden Gesellschaft. Wenn aber ein gewisser Standard erreicht ist, ist das Grundeinkommen ein Instrument, das Wahlfreiheit ermöglicht. Eine Minderheit der Gesellschaft hatte schon immer die Wahl: Reiche Erben können sich von jeher aussuchen, ob sie arbeiten wollen oder nicht. Wir möchten diese Möglichkeit erweitern. Wir nennen das ein „demokratisch gutes Leben“. Es geht um die Freiheit der Wahl. Ein denkbar liberaler Ansatz, oder nicht?
ES: Ein Haupteinwand gegen das Grundeinkommen lautet, es würde die Menschen faul machen und dazu animieren, weniger zu arbeiten. Das aber ist exakt der Grund, warum wir es empfehlen.
Warum begnügen Sie sich eigentlich mit einem „guten Leben“, statt das „glückliche Leben“ als Ziel zu bestimmen?
ES: Wir halten es für falsch, an die Stelle der Wohlstandsmaximierung nun die Glücksmaximierung zu setzen. Glück lässt sich nun einmal nicht messen.
Wie passen sich Ihre Überlegungen in die Debatten um die EU-Finanz- und Wirtschaftskrise ein?
RS: Ich habe das Gefühl, Angela Merkel will ein neues Zeitalter des Sparens ausrufen. Sie sagt ja: Die EU-Länder im Mittelmeer-Raum könnten sich ihren Lebensstil nicht leisten, und immer müssten die Deutschen am Ende die Zeche zahlen. Und warum sollten sie das tun? Das klingt nachvollziehbar aus Sicht eines Landes, das erfolgreich war beim Aufbau wirtschaftlichen Wohlstands. Wenn Sie die Dinge aber so betrachten, geraten Sie in einen schwer lösbaren Konflikt: Die Sparauflagen, die Länder wie Griechenland, Zypern oder Italien erfüllen müssten, um mit Deutschland auf Augenhöhe zu kommen, sind viel zu gewaltig. Das werden diese Länder nicht auf sich nehmen.
Sie sehen die EU zerbrechen?
RS: Durchaus möglich. Wenn sich nicht durchsetzt, was ich und andere vorschlagen: die Harmonisierung und Integration der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Sehen Sie, im alten Reichssystem konnten die Herrscher ihre Untertanen besteuern und so disziplinieren. Aber Deutschland kann Griechenland nicht besteuern. Alles, was Deutschland tun kann, ist, den Rettungsschirm aufzuspannen. Aber wenn Sie komplett von meinen Rettungsmaßnahmen abhängen, dann sind Sie mir unterworfen, dann sind Sie mein Sklave.
Alle MZ-Gespräche:www.mz-web.de/gespraech
